Ja, dachte Marie-Claire, er ist, was ich vermutet habe. Ich habe es sofort gesehen. Er ist ein wortgewandter, gebildeter, unglaublich gut aussehender Mann mit Stil. Mit Klasse. Und er hat angebissen!
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, lächelte er sie an. »Da ich weiß, wie schwer es ist, für dieses Mozart-Ensemble Karten zu bekommen, ich aber aus geschäftlichen Gründen zu dem Hausherrn exzellente Kontakte habe, werde ich Ihnen eine neue Karte besorgen. Darf ich Ihnen das anbieten?«
»Oh, das ist ja wunderbar«, jubelte Marie-Claire. Ihre Freude war nicht gespielt, aber dennoch wartete sie noch auf eine weitere Frage. Und die kam prompt.
»Würden Sie es als aufdringlich betrachten, wenn ich Sie fragen würde, ob ich Ihnen bei diesem Konzert Gesellschaft leisten dürfte?« Er sagte es so ehrlich und unwiderstehlich, dass sie viel zu schnell antworte: »Nein, ganz und gar nicht. Sehr gern!«
Zehn Minuten später verließ Marie-Claire de Vries mit wild pochendem Herzen den Hinterhof der Deutschordenskirche St. Elisabeth. Sie war glücklich, hatte Kopfschmerzen, hätte Salto schlagen können und vor Freude hüpfen wollen. So wunderbar hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Heute Abend würde sie wieder hierherkommen. Und in einigen Tagen würde sie ins Konzert gehen. Hier, in den Sala Terrena – mit ihm! Mit Gregor Friedrich Albert von Freysing. Jenem Mann, der sich vor einigen Monaten in die Christie’s-Zentrale in London so auffällig für den Florentiner Diamanten interessiert hatte und der dabei vom Sicherheitsdienst fotografiert worden war. Sie hatte ihn sofort wiedererkannt. Er sah so aus wie auf dem Foto – unglaublich gut!
Marie-Claire de Vries ging in die kleine Passage bei Haas & Haas. Ihre Gedanken waren längst beim heutigen Abend, und so bemerkte sie nicht, dass Gregor Friedrich Albert von Freysing an der Ausfahrt des Parkplatzes mit seinem Jaguar stehen blieb, durch das Fondfenster hindurch nachdenklich der attraktiven Frau mit den langen, blonden Haaren hinterherblickte. Leise murmelte er vor sich hin: »Seltsam! Da stimmt doch irgendetwas nicht!«
Der Schlagbaum öffnete sich. Der Jaguar rollte hinaus auf die Straße. Gregor Friedrich Albert von Freysing dachte angestrengt nach. Wie konnte diese Frau hier parken und dabei ihre Konzertkarte verlieren? Das war eigentlich unmöglich.
Dieser Parkplatz im Hinterhof des Deutschordens war durch einen Schlagbaum gesichert. Nur die Mitarbeiter mit einer elektronischen Chipkarte durften hier rein. Und einige ausgewählte Mitglieder des Ritterordens vom Goldenen Vlies, die fünf Offiziere. Und der Souverän …
7. Kapitel
Seinen Geburtstag hatte sich Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein anders vorgestellt. Freunde, Geschäftspartner und Verwandte aus aller Welt hatten kommen sollen. Mehr als vierhundert Gäste waren geladen gewesen. Doch die dramatischen Geschehnisse vor etwa zwei Wochen hatten alle Pläne zunichte gemacht. Sein Leben und das von Klara hatte eine tragische Wende erfahren. Ihre unbändige Lebenslust war einer grausamen Realität gewichen. Er fühlte sich leer, antriebslos, litt unter extremen Stimmungsschwankungen und musste sich zwingen, dem Leben positive Aspekte abzuringen. Aber er war sich längst im Klaren darüber, dass nichts in seinem Leben jemals wieder so sein würde, wie es einmal gewesen war. Die herannahenden kalten Tage und Nächte des Winters verstärkten seine trübsinnigen Gedanken. Klara war noch immer im Sanatorium. Wie sehr er sie vermisste! Die hoch über der Donau gelegene Burg kam ihm ohne sie wie ein finsteres Verlies vor. Klaras Ärzte zeigten sich sehr skeptisch. Ihr fragiler Zustand war weder medikamentös noch mit Hilfe von Therapeuten zu stabilisieren. Ihre Seele war in dem Sanatorium am Chiemsee in eine andere Welt geflüchtet. Sie war hochgradig suizidgefährdet. Die Gegenwart nahm sie nicht wahr, starrte apathisch aus ihrem Fenster hinaus auf dem See. Stunden- und tagelang. Physisch lebte sie. Sie aß, weil die Ärzte ihr sagten, dass sie essen müsse. Sie trank, weil er sie darum bat. Und trotzdem war ihr körperlicher Verfall nicht zu übersehen. Ihre einst so strahlenden Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Nicht ein einziges Wort hatte sie seit jenem grausamen Morgen gesprochen. Sie war körperlich gegenwärtig, aber ihre Seele war tot. Und niemand wusste, ob sich das jemals wieder ändern oder zumindest bessern würde.
Ihm ging es nicht viel anders. Seit dem Überfall durch die Araber hatte er das Gefühl, neben sich zu leben. Er tat alles, was überlebensnotwendig war. Aber was er tat, war kaum mehr als dumpf dem tief in ihm nach bio-chemischen Gesetzen funktionierenden Überlebenstrieb zu gehorchen. Ein Trieb, ein Urinstinkt, der nur von einem einzigen Gedanken genährt wurde: Rache! Er wollte Rache. Um jeden Preis.
Er saß im Erkerzimmer der Bibliothek. Das Kaminfeuer flackerte unruhig. Es war ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Die Nachmittagssonne kolorierte Hügel und Wälder. Mit Erstaunen stellte er fest, dass er diesen Tag tatsächlich als angenehm empfand. Das erste Mal seit Wochen. Nervös griff er nach dem Brief, der soeben per Eilboten zugestellt worden war. Schon der Poststempel hatte bei ihm geradezu euphorische Gefühle freigesetzt. Endlich! Das war die Antwort seines guten Freundes und Geschäftspartners Robert aus Frankreich. Hastig riss er den Umschlag auf, entfaltete den Brief und überflog die Zeilen. Bei den letzten Sätzen glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Leise las er die Worte, auf die er gewartet und gehofft hatte, vor sich hin: »… nach Rücksprache mit meinem Freund in Ouarzazate steht dir seine Jagdhütte selbstverständlich zur Verfügung. Sowohl für Niederwild als auch für Schwarzwild sind hochwertige Waffen vorhanden. Ich kann dir aus eigener Erfahrung sagen, dass es immer sehr lustig ist, dort zu jagen. Mir persönlich macht die Jagd auf Pendrix-Hühner und Sumpfschnepfen viel Freude. Besonders schön ist es in Sidi Boughaba und auf der Ile de Skhirate! Da die Saison für Schwarzwild bereits am 3. Oktober angefangen hat und einige seiner Freunde die Jagdhütte bereits vor längerer Zeit angemietet haben, müsstest du in der Zeit vom 21. bis 29. Dezember allerdings auf ein Hotel ausweichen. Für Details und konkrete Absprachen setze dich bitte direkt mit meinem Freund Ousmane in Ouarzazate in Verbindung. Denk bitte daran, dass er als Provinzgouverneur viel unterwegs ist. Du erreichst ihn aber am Abend unter folgender Telefonnummer: 00212-44-4465651.«
Das war die beste Nachricht, die er in den letzten Tagen erhalten hatte! Georg Ludwig von Hohenstein spürte, wie plötzlich wieder dieses eigentümliche Gefühl in ihm aufkam. Jagdfieber. Ja, es war das gleiche Gefühl, das er gehabt hatte, als er den Arabern nachgefahren war. Genau so hatte er sich gefühlt, als er durch das Zielfernrohr hindurch das Gesicht des Fahrers anvisiert hatte. Jetzt war dieses Gefühl wieder da! Von dem Moment an, da er erfahren hatte, dass er nicht den Vergewaltiger, sondern einen der anderen Araber erschossen hatte, war er nur noch von einem Gedanken beseelt: Er wollte den Kleinen, den schmächtigen Araber, den, der Klara vergewaltigt hatte, töten. Seit ihm sein beim bayrischen Innenministerium beschäftigter Studienkollege vertraulich mitgeteilt hatte, dass zumindest einer der Araber verwundet nach Marrakesch geflohen war und dort ganz offensichtlich auch wohnte, stand sein Plan fest. Es war ein guter Plan. Mit diesem Brief aus Frankreich rückte dessen Realisierung in greifbare Nähe. Zufrieden faltete er den Brief zusammen, ging zielstrebig zum Bücherregal und holte einen Atlas hervor. Nach längerem Blättern fand er Marokko. Gebannt starrte er auf einen im Süden gelegenen Ort namens Ouarzazate.
»Mehr als zweihundert Kilometer werden das nicht sein«, flüsterte er und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stadt nördlich der von Osten nach Westen quer durch Marokko verlaufenden Gebirgskette. »Marrakesch! Auf geht’s, zur Jagd nach Marrakesch!«
*
Seit Stunden blätterte Carlo Frattini in den Reisekatalogen herum, ohne auch nur ein für ihn annähernd erschwingliches Angebot zu finden. Er war wütend. Die Erbschaftsangelegenheiten seines Vaters würden sich länger als erwartet verzögern. Bis zur Auszahlung des Geldes würden höchstwahrscheinlich noch zwei Monate vergehen. Das war die schlechte Nachricht. Die gute war, dass sein Vater Leonardo im Laufe seine Lebens ganz offensichtlich sehr fleißig gespart hatte. Wie es aussah, vererbte er Carlo neben dem kleinen Boot und dem Haus bei San Teodoro auch noch die stattliche Summe von einhundertzwanzigtausend Euro. Woher sein Vater so viel Geld hatte, war ihm schleierhaft. Weder als Fremdenlegionär noch als Museumswärter hätte er genug beiseite legen können, um diese Summe anzusparen.