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Letztendlich war das Carlo gleichgültig. Früher oder später würde der Notar das Geld freigeben. Das Problem war nur, dass er dieses Geld sofort brauchte. Nach Informationen seines Freundes Gianfranco, der hervorragende Kontakte zu Interpol hatte, stand fest, dass diese Araber sich nach Marokko abgesetzt hatten und noch immer dort waren. Einer war von der Schweiz aus geflohen. Ein anderer hatte sich, ebenfalls mit einem Ambulanzflugzeug, vom französischen Strasbourg nach Marokko abgesetzt. Zusammen mit den Informationen, die ihm dieser kleine, zwölfjährige Killer gegeben hatte, zeichnete sich ein ziemlich klares Bild ab: Wer immer diese Araber auch waren, ob schnöde Kriminelle oder vielleicht sogar Terroristen, sie hatten ein Versteck in Marrakesch. Dort fühlten sie sich ganz offensichtlich sehr sicher. Wahrscheinlich genossen sie Unterstützung und Rückendeckung aus hochrangigen politischen Kreisen in Rabat. Da ihm der kleine Junge in Todesangst auch noch verraten hatte, dass sein eigener Bruder mit zu diesen brutalen Leuten gehörte, die sich den Überfall auf den Palazzo Pitti ausgedacht hatten, zeichnete sich eine realistische Chance ab, an die Killer heranzukommen. Die Frage war nur, wie?

Er musste so schnell wie möglich nach Marrakesch, um anhand der ihm vorliegenden Details dieses Versteck ausfindig zu machen. Es war fraglich, wie lange sich diese Dreckskerle, die seinen Vater auf dem Gewissen hatten, noch dort aufhalten würden. Aber er hatte nicht einmal das Geld für ein Ticket, geschweige denn so viel, um seinen Plan vor Ort umsetzen zu können. Denn einen Plan hatte er bereits. Es war ein sehr simpler Plan. Einer, der bei den vielen Vendetta-Morden in seiner Heimat Sardinien schon oft perfekt funktioniert hatte und sicherlich auch in Marokko funktionieren würde. Besonders in dem in ganz Italien als »Banditendorf« berüchtigten Bergstädtchen Orgosolo waren nach diesem Prinzip über die letzten fünfzig Jahre immer wieder Männer umgebracht worden. Dort oben in den sardischen Bergen, nicht weit von der Provinzhauptstadt Nuoro entfernt, hatten sich über Jahrhunderte und auch noch in den letzten Jahrzehnten grausame Familienfehden abgespielt. Immer ging es um die Ehre. Und immer folgte dem Tod der Tod eines anderen. Manchmal wurden Familien geradezu ausgerottet. Mal wurden Männer erschossen, auf offener Straße, beim Frisör oder fern ihrer Heimat, mal verschwanden sie ganz einfach, was meistens bedeutete, dass sie in eine der unzähligen Grotten und »su disteni« genannten Karstschlünden der Insel gestürzt wurden und damit auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Nicht einmal der Einsatz italienischer Armee- und Sondereinheiten hatte diese grausamen Blutfehden von Orgosolo beenden können.

Ja, dachte Carlo Frattini, es war ein einfacher Plan, den er hatte, einer, der auf außerordentlicher Brutalität basierte und daher von den meisten Menschen nicht für denkbar gehalten wurde. Aber auf Sardinien galten seit jeher andere Gesetze. Das Rechtsprinzip der Vendetta, als eigenes Regulativ eines archaisch strukturierten Hirtenvolkes über Jahrhunderte entstanden, kannte kein Mitleid. War das Opfer auserkoren, stand sein Tod fest. Es war nur eine Frage der Zeit. Und Zeit war der engste Vertraute eines bandito d’onore di Sardegna. Es gab kein Vergessen, wenn die Schuld feststand und das Todesurteil ausgesprochen war. Die Rache konnte auch manchmal erst zwanzig oder dreißig Jahre später erfolgen. Nein, Zeit spielte wirklich keine Rolle, wenn es galt, ein Urteil zu vollstrecken. Die besudelte Ehre wieder herzustellen steuerte das Denken einer sardischen Familie ein Leben lang. Wer vollstreckte, war ebenso gleichgültig wie das Wann. Hauptsache, es wurde getan.

Und so stand auch für Carlo Frattini fest, dass er den Tod seines Vaters Leonardo rächen würde. Das Problem war lediglich, dass er sich beeilen musste. Die einzige Chance sah er daher darin, sich Geld zu borgen. Ganz gleich von wem und ganz gleich zu welchen Konditionen. Er musste nach Marokko. Erst dort würde er absehen können, wie lange er wirklich brauchte, um seinen Plan umzusetzen. Ja, dachte er, als er an diesem späten Nachmittag durch die nebligen Gassen von Florenz stadtauswärts in seine Wohnung in Borgo San Lorenzo fuhr, ja, du musst auf jeden Fall einen Flug reservieren. Erst den Flug reservieren! Das Geld würde er dann schon irgendwie auftreiben. Ohne Geld kein Flug. Und ohne Geld würde er auch die Waffe nicht bekommen. Die Rache für den Tod seines Vaters, durchfuhr ihn die ernüchternde Erkenntnis, hing von Geld ab.

*

»Ich glaube es nicht! Schau dir das bloß an! Eine Luxuslimousine nach der anderen! Chauffeure, Diplomatenkennzeichen – und höchstwahrscheinlich sind diese Edelkarossen auch noch gepanzert. Noblesse oblige!«

Als sie die von Chauffeuren gesteuerten schwarzen Nobelwagen mit getönten Scheiben vorfahren und in der Einfahrt neben der Deutschordenskirche verschwinden sah, die zu jenem Parkplatz führte, auf dem sie heute Gregor Friedrich Albert von Freysing kennen gelernt hatte, wurde Marie-Claire de Vries schnell klar, dass sich an diesem Abend nicht nur Aristokraten, sondern auch Geldadel in Wien treffen würde. Nur wenige Stunden waren seit ihrer Begegnung mit Gregor von Freysing vergangen. Stunden, die sie nie in ihrem Leben vergessen würde, denn alles, was am heutigen Tag passiert war, kam ihr wie ein Traum vor. Zusammen mit ihrer Freundin Christiane saß sie in ihrem Suzuki-Geländewagen. In dem Fahrzeug wurde es empfindlich kühl. Sie hatte den Wagen schräg gegenüber des Eingangs der Kirche mit Blick auf die Einfahrt geparkt. Die beiden Sicherheitsbeamten, die seit einer Stunde in der Toreinfahrt standen, hatten schon neugierig zu ihnen herübergeschaut, dann aber Christianes Hund gesehen und sie wohl als Frauen auf Einkaufstour eingeschätzt.

Soeben fuhr wieder eine noble Karosse vor. Ein von einem Chauffeur gesteuerter Audi A8 mit getönten Scheiben. Ein kleines Schild mit den Buchstaben CD neben dem Kennzeichen WD-82313 ließ darauf schließen, dass es ein Diplomatenfahrzeug war. Es war früher Abend. Sie war froh, dass sich Christiane kurzfristig entschlossen hatte mitzukommen. Nach dem gemeinsamen Besuch der Schatzkammer war sie zu dem Schluss gekommen, dass die vor ihr liegenden Aufgaben den üblichen Rahmen ihrer Arbeit für Christie’s sprengen würden. Und natürlich hatte Chrissie in der Schatzkammer sehr schnell gespürt, dass es hier nicht um eine simple Basisrecherche ging. Obwohl Francis Roundell sie mit Nachdruck gebeten hatte, diese Angelegenheit streng vertraulich zu behandeln, hatte sie ihre Freundin dann doch eingeweiht und sie gebeten, absolut verschwiegen zu sein. Sie ahnte, dass Christiane ihr helfen konnte, und sie spürte, dass diese Aufgabe vielleicht sogar ein bisschen gefährlich werden konnte. Daher war Marie-Claire nun froh, ihre Freundin neben sich zu wissen. Die kramte gerade aufgeregt in einem Stapel Papier. Es waren Informationen über den Orden der Ritter vom Goldenen Vlies. Woher Chrissie sie in den wenigen Stunden seit ihrem Telefonat hatte, wusste Marie-Claire nicht, aber was ihre Freundin da vorlas, verschlug ihr die Sprache.

»Meine liebe Marie-Claire, wenn ich mir das hier anschaue, werden wir heute Abend wohl Zeugen eines geheimnisvollen Treffens der aristokratischen Hautevolee Österreichs und Europas! Schau! Da! Siehst du den Mann dort, der gerade in die Toreinfahrt geht?«

Aufgeregt deutete sie auf einen kräftigen, etwa fünfzigjährigen Mann.