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»Was ist mit ihm?«

»Den kenne ich! Das ist der Industrielle Baron Friedrich Mayr-Melnhof! Mitglied des Aufsichtsrates eines Konzerns, der mit Holz und Kartons ein Vermögen macht. Der hat ein riesiges Schloss mit einhundertsechzig Zimmern im Attergau.«

Hektisch blätterte Chrissie in ihren Unterlagen und las sichtlich beeindruckt weiter.

»Gehört angeblich zu den reichsten Männern Österreichs, Landrat a.D., ist Ehrenpräsident des Golfverbandes; mit vierzehn Jahren nach Kanada gegangen, hat dort als Waldarbeiter geschuftet, ist passionierter Jäger, gilt als Naturbursche und …«

Chrissie brach abrupt ab und schaute ihre Freundin mit großen Augen an. »Voilà! Der Herr Baron ist …«

»Nun sag es schon«, zischte Marie-Claire sie an.

»Der Herr Baron ist einer der fünf Ordensoffiziere des Ordens vom Goldenen Vlies! Und zwar nicht irgendein Offizier, sondern der wichtigste: nämlich der Chancellier!«

Marie-Claire verfolgte gebannt das Geschehen. Wieder fuhren zwei Fahrzeuge vor. Weil die Singerstraße vor der Ordenskirche eine Sackgasse war, mussten alle Autos sehr langsam fahren und direkt vor dem Suzuki wenden. Im Fond des ersten Fahrzeuges sah sie einen Mann, den auch sie aus dem Fernsehen kannte.

»Welch honorige Gesellschaft! Da kommt Seine Exzellenz, der Wiener Erzbischof, Christoph Graf Schönborn-Wiesentheid.«

Chrissie blätterte erneut in ihren Unterlagen, fand und las vor.

»Erzbischof Dr. Christoph Kardinal Schönborn! Studierte Philosophie und Psychologie, ein Jahr in Regensburg, wo der jetzige Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, sein Lehrer war. Lehrte als Ordinarius katholische Dogmatik an der Katholischen Universität im Schweizerischen Fribourg. Und … er ist Aumonier …«

»Er ist was?«, fragte Marie-Claire.

»Seine Exzellenz ist Aumonier – Kaplan des Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies, also zuständig für die geistlichen Belange des Ordens. Der Hüter von Moral und Ethik quasi!«

Christiane kramte weiter in ihren Blättern. Immer wieder artikulierte sie ihr Erstaunen, schüttelte verwundert den Kopf und flüsterte bruchstückhaft Informationen vor sich hin.

»Ich glaube, ich bin hier in einem Film über das Mittelalter«, presste sie hervor. »Die Herrschaften da drinnen haben einen so genannten Herold, ein Herr Waldstein, den Chancellier, Baron Friedrich Mayr-Melnhof, natürlich auch einen Greffier namens Alexander Graf von Pachta-Reyhofen. Und, selbstredend, den Trésorier, nach meinen Unterlagen ist das Wulf-Gordian Freiherr von Hauser! Ach ja, fast hätte ich es übersehen: Da gibt es logischerweise auch einen Chef, der neunzehnte Chef und Souverän dieses ehrenwerten Ritterordens: Karl von Österreich, beziehungsweise Karl von Habsburg – der Enkel des letzten österreichischen Kaisers! Jener österreichische Kaiser, der erst unlängst vom Papst selig gesprochen wurde. Man sagt, das sei so schnell gegangen, weil die Ritter vom Goldenen Vlies exzellente Verbindungen zum Papst haben. Apropos Papst: Wenn ich richtig informiert bin, war es seit Bestehen dieses Ordens so, dass so genannte unabdingbare Ordensstatuten nur mit Genehmigung des Papstes geändert werden durften. Du siehst also, der Orden vom Goldenen Vlies ist der katholischen Kirche sehr verpflichtet. Und wohl auch umgekehrt.«

Marie-Claire de Vries hörte ihrer Freundin kaum noch zu. Die Namen, die Chrissie da vor sich hinplapperte, kannte sie, hatte sie schon oft gehört. Sie alle waren fester Bestandteil der Klatschspalten von Magazinen. Ihre Familiennamen hatten das monarchistische Österreich der letzten Jahrhunderte ebenso geprägt, wie sie im politischen wie auch wirtschaftlichen Leben dieses Landes noch immer allgegenwärtig waren. Doch all das interessierte sie im Moment nur beiläufig. Ihre Gedanken waren woanders, denn nur wenige Schritte von ihr entfernt hielt soeben eine weitere Luxuslimousine vor der Toreinfahrt zur Kirche. Eine, die sie kannte. Es war sein Jaguar! Gebannt starrte sie hinüber, sah den dunklen Anzug unter seinem schwarzen Mantel, sah, wie er selbstbewusst und zielstrebig in auf Hochglanz polierten schwarzen Lackschuhen auf die Toreinfahrt zustrebte und darin verschwand. Wie elegant er aussah! Aber was hatte er mit diesem seltsamen Orden zu tun? War auch er ein Mitglied des geheimnisvollen Ritterordens?

Marie-Claire merkte, dass seine Nähe sie irritierte. Plötzlich hatte sie dieses seltsame Gefühl im Bauch. Sie kannte dieses Gefühl. Vor einigen Jahren hatte es sich eingestellt, als sie Frederik kennen gelernt hatte, und bald hatte es sich zu einer großen Liebe entwickelt – die dann unter grausamen seelischen Schmerzen abgestorben war.

Unwillig versuchte sie, diese Gedanken abzuschütteln. Es gelang ihr nicht. Der hervorgepresste Aufschrei ihrer Freundin riss sie aus ihren Erinnerungen.

»Meine Liebe«, stotterte Christiane, »damit du eine Ahnung hast, was da heute Abend im Wien des 21. Jahrhunderts abläuft, lese ich dir einmal vor, wer da in den letzten Jahrzehnten alles zu diesen Vliesrittern gehörte beziehungsweise immer noch dazu gehört – und möglicherweise heute Abend da drinnen anwesend sein wird. Es ist unglaublich! Also, da haben wir den Fürsten von Liechtenstein, Hans Adam II., dann der sechste König von Belgien, Prinz Albert II., und Seine Königliche Hoheit, Großherzog Jean von Luxemburg! Wahnsinn! Könige! Fürsten! Herzöge und das mitten in Wien! Ohne Polizeieskorten, ohne großes Trara – einfach so, klammheimlich und direkt vor unseren Augen.«

»Ich muss da rein!«, unterbrach Marie-Claire de Vries ihre Freundin. Sie sagte es sehr leise, aber bestimmt. Verdutzt starrte Christiane ihre Freundin an. Sie sah, wie diese mit einem eigentümlichen Blick hinüber zu der Toreinfahrt starrte.

»Ich muss in diese Kirche rein, egal wie.«

Christiane Schachert war für einen Moment sprachlos. Nervös fuhr sie sich mit beiden Händen durch ihre Haare. Ihre unmissverständliche Bewegung mit dem Zeigefinger zur Stirn leitete einen wahren Wortschwall ein.

»Du hast einen Knall, Marie-Claire! Und zwar einen ziemlich großen! Da drinnen trifft sich der Hochadel Europas zu einer geheimnisvollen Zeremonie, abgeschottet durch Bodyguards, hinter verrammelten Kirchentüren. Die beiden hünenhaften Typen da am Eingang, das sind ohne Frage keine privaten Leibwächter, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Beamte vom Staatsschutz oder so. Die fressen dich bei lebendigem Leibe auf, wenn du auch nur einen Schritt zu nahe an die Kirche kommst. Mademoiselle de Vries belieben wohl zu scherzen?«

»Nein, das ist kein Scherz! Ich will, ich muss da rein!« Marie-Claire de Vries wandte sich zu ihrer Freundin um. Sie war plötzlich sehr ernst. »Der Typ mit dem Jaguar! Ich muss wissen, ob er zu diesem Ritterorden gehört, denn er ist hinter dem Florentiner-Diamanten her. So wie ich.«

Kaum, dass sie es gesagt hatte, wusste sie, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Ja, sie wollte, sie musste wissen, was er mit diesem Ritterorden und mit dem Florentiner zu tun hatte. Sie wollte wissen, was es mit diesem höchst geheimnisvollen Ritterorden auf sich hatte, der im 21. Jahrhundert Zeremonien praktizierte, die schon vor fast sechshundert Jahren praktiziert worden waren, um die einflussreichsten Männer des damaligen Europas zu einer mächtigen Bruderschaft zusammenzuführen. Ja, all das wollte sie wissen. Aber das alleine war nicht der Grund. Da war noch etwas: Marie-Claire war auf dem besten Wege, sich in Gregor von Freysing zu verlieben.

Eine Viertelstunde später stieg Marie-Claire de Vries aus ihrem Wagen. Christiane hatte zwar vehement versucht, sie abzuhalten, aber nichts und niemand hätte sie an diesem Abend stoppen können. Sie wusste, dass es irrational war, was sie tat. Es ging nicht um den Florentiner, nicht um ihren Auftrag. Es ging um dieses Gefühl.

Seit zehn Minuten waren keine Limousinen mehr vorgefahren. Die Kirche wirkte in der Dunkelheit völlig unscheinbar. Nichts verriet nach außen, was sich hinter den drei Kirchenfenstern abspielte. Nur die beiden Sicherheitsbeamten passten nicht zu dieser friedlichen Atmosphäre. Bestrebt, wie eine flanierende Shopperin zu wirken, schlenderte sie die Singerstraße hinab, schaute in die Schaufenster und überquerte nach etwa vierzig Metern die Straße. Sie blickte auf die Armbanduhr. Ihr Herz pochte wild. Würden dort drüben, vor oder in der Einfahrt zum Hinterhof des Café Haas, dem Parkplatz der Deutschordenskirche, auch Sicherheitsbeamte stehen? Fast auf Zehenspitzen schlich sie einen Schritt in die Einfahrt hinein. Der Innenhof war stockdunkel. Sie sah nur die rot-weiße Sicherheitsschranke in der Toreinfahrt hin zum Parkplatz. Misstrauisch schielte sie über ihre Schulter nach hinten, ob einer der beiden Sicherheitsbeamten zu sehen war. Nein! Aber sie sah Chrissie, wie sie aus dem Wagen stieg und mit selbstbewusstem Schritt auf den Eingang zur Kirche zuging. Mach bloß keinen Mist, dachte sie und ging so leise wie nur möglich auf dem Kopfsteinpflaster in den Innenhof.