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Sein Zeigefinger tastete nach dem Abzug des Jagdgewehrs. Die linke Schläfe des Arabers am Lenkrad war jetzt mitten im Fadenkreuz. Aber Freiherr Georg von Hohenstein schoss nicht. Tränen rannen auf das Glas des Zielfernrohrs. Die Silhouette des Fahrers verschwamm vor seinen tränenerfüllten Augen, wurde kleiner und verschwand im Wald.

*

Vor dem Tod hatte Leonardo Frattini keine Angst. Doch dass sein missratenes Leben jetzt in Florenz, fern seiner Heimat Sardinien, enden würde, gefiel ihm nicht. Und es enttäuschte ihn maßlos, dass es so schnell gehen würde. Andererseits, dachte er sich, so schlecht ist es nun auch wieder nicht, als verarmter sardischer Hirte im weltberühmten Palazzo Pitti zu sterben.

Seine allerletzten Gedanken, jene Augenblicke, die zwischen dem erstaunten Blick auf den davonlaufenden Jungen und der Explosion lagen, kreisten daher nicht um das Entsetzen über den Tod. Er hatte in seiner Zeit bei der französischen Fremdenlegion im Krieg in Algerien so viel Totes, tote Menschen, verendete Tiere, leblose Landschaften und abgestorbene Gefühle gesehen, dass ihn das nicht mehr entsetzen konnte.

Vielmehr bereute er in diesen wenigen ihm noch verbleibenden Sekunden seines Lebens, die eine Sache mit seiner Enkelin Francesca nicht geregelt zu haben. Die Kleine sollte sein winziges Landhaus bei San Teodoro auf Sardinien erben. Ebenso wie das Segelboot und die Ersparnisse. Sie sollte alles bekommen. Dieses Vorhaben war mit dem Wissen um die Unabwendbarkeit seines baldigen Todes gereift. Die Entscheidung, seinen Sohn Carlo zu enterben und alles der kleinen Francesca zu vermachen, war gefallen, als er erfahren hatte, dass Carlo bereits mit dem Erbe kalkulierte. Carlo brauchte wieder einmal Geld für eine seiner absurden, seit jeher schon im Ansatz zum Scheitern verurteilten Geschäftsideen, und er stand unter Druck bei seinen Gläubigern. Banken, Freunde und suspekte Geldverleiher. Folglich hatte er sein zu erwartendes Erbe bereits verpfändet. So gesehen wartete Carlo sehnsüchtig auf den Tod seines Vaters. Das wusste Leonardo Frattini. Doch sein Sohn hatte nicht damit gerechnet, dass Leonardo ihm einen Strich durch seine zynische Rechnung machen würde. Er lebte länger als erwartet, denn die Metastasen vermehrten sich langsamer als von den Ärzten prognostiziert. Daher hatte Leonardo Frattini auch geglaubt, noch Zeit genug zu haben für die Änderung des Testaments. Die Schmerzen waren in den letzten Wochen seltsamerweise nicht so grauenhaft wie zuvor. Zwar wuchs der Tumor in der rechten Schädelseite, aber die Schmerzen ließen nach. Das hatte Leonardo zu der fatalistischen Erkenntnis geführt, dass der Tod wohl auch etwas Gutes habe, da mit seinem Herannahen die Schmerzen wichen. Und weil dem so war, hatte er sich bei der Personalabteilung des Palazzo Pitti wieder zur Arbeit gemeldet. Er hatte erfahren, dass man im Palazzo wegen einer Sonderausstellung zusätzliche Mitarbeiter benötigte. Seine Arbeit als Wärter in jenem Gebäudetrakt des Museums, in dem unter anderem die Schätze der Medici ausgestellt waren, machte ihm Spaß. Für Glanz und Glorie dieses italienischen Herrschergeschlechts hatte er sich schon als kleiner Junge begeistert. Die prachtvollen Schätze der Medici im Palazzo Pitti zu bewachen, sah er als ehrenvolle Aufgabe an, auch wenn es manchmal langweilig war, den ganzen Tag durch den linken Flügel des Palazzo zu gehen und zu warten, bis Besucher ihn etwas fragten. Andererseits hatte er seit Monaten ohnehin nichts anderes getan als gewartet. Auf den Tod. Die Arbeit machte das Warten auf das Ende kurzweiliger, und eine Sonderausstellung brachte Abwechslung in seinen Tagesablauf. Daher hatte er sich sehr darauf gefreut, als am heutigen Morgen die Sonderausstellung über Maria de Medici im Palazzo Pitti eröffnet worden war. Aus aller Welt waren prachtvolle Exponate eingetroffen und in den Vitrinen ausgestellt. Unter den Exponaten befanden sich auch viele Gemälde von Michelangelo, der eng mit den Medici befreundet gewesen war. Schon am frühen Morgen hatten sich Besucherschlangen vor dem Palazzo auf der Piazza dei Pitti bis in die Via Guicciardini und auf die Piazza San Felice gebildet. Der Ansturm war überwältigend. Jetzt, am frühen Nachmittag, waren die Salons der zweiten Etage noch immer überfüllt.

Dass du dich freiwillig zur Arbeit gemeldet hast, schoss es ihm in diesen letzten Momenten seines Lebens durch den Kopf, war eine tödliche Entscheidung gewesen. Hätte er weiterhin nicht gearbeitet, würde er noch ein wenig länger leben und hätte Zeit, sich um diese leidige Erbsache zu kümmern.

Das Letzte, was der sechsundsechzigjährige Museumswärter Leonardo Frattini an diesem frühen Novembernachmittag dachte, war, dass es eigentlich ein zynischer Seitenhieb des Schicksals sei, von einem ungefähr zwölfjährigen kleinen Jungen getötet zu werden, wo er doch gerade entschieden hatte, seiner ebenfalls zwölfjährigen Enkelin alles zu vererben und der Kleinen damit ein angenehmes Lebens zu garantieren. Er starrte bei diesem Gedanken auf die graue, von Kinderhand geformte Knetmasse an der linken unteren Ecke der Glasvitrine. Eine kleine Hülse steckte in der Masse, und aus der Hülse schaute ein blaues Kabel hervor. Das Ganze sah sehr unscheinbar aus, fast so wie die Knetmassen, mit denen er als Kind im Kindergarten von San Teodoro gespielt hatte. Aber er kannte diese Masse mit der Hülse aus dem Krieg und wusste, dass es Plastiksprengstoff war. Vielleicht dreißig Gramm. Das war nicht sehr viel, aber dennoch genug, um die Vitrine aus Panzerglas in Millionen kleine Teile zu zerfetzen. Er sah den Zeitzünder und war sich todsicher, dass irgendjemand hier im Palazzo Pitti gleich auf einen Knopf drücken und die funkgesteuerte Sprengladung zünden würde. Er verstand nur nicht, warum. Denn von den kostbaren Schmuckstücken in der Vitrine, von den unvorstellbar wertvollen goldenen Colliers, Broschen, Armreifen, Haarnadeln und Ringen, den goldenen Insignien des Herrschergeschlechts der Medici und anderer abendländischer Fürsten, würde nichts übrig bleiben. Nur deformiertes Metall, das nichts wert sein würde. Nein, er verstand nicht, was da direkt vor seinen Augen gleich geschehen würde.

Leonardo Frattini hörte wie aus weiter Ferne das unsagbar grelle Schrillen der Alarmanlage, ausgelöst durch die abrupten Bewegungen des Jungen, der sich über die rote Absperrkordel gebeugt und blitzschnell die Knetmasse an die Vitrine geklebt hatte. Er hörte das Hallen der schnellen Schritte des davonlaufenden Jungen auf dem Marmorboden. Er vernahm verwundert murmelnde Besucher, sah erstaunte Gesichter und sah seinen Kollegen Vincenzo aus dem Nebenraum hereineilen. Vincenzo sah wie immer sehr lächerlich aus mit seinem dicken Bauch in der viel zu engen Uniform und mit der leger in den Nacken geschobenen Schirmmütze. Der sardische Hirte und Exfremdenlegionär Leonardo Frattini sah in diesen Sekunden viel, hörte alles, verstand aber nicht, was da vor sich ging. Den kleinen, arabisch aussehenden Jungen hatte er zwar kurz beobachtet, als dieser vor wenigen Minuten in den Raum gekommen war. Er hatte irgendwie hilflos ausgesehen, als suche er Rat oder seine Eltern. Mit großen Augen der Begeisterung hatte der Kleine mit dem Unschuldsblick eines Kindes im Ausstellungsraum herumgeschaut und war dann vor der Vitrine, in der rechten Ecke des Salons, nahe dem Fenster stehen geblieben. Warum sollte man als Wärter im Palazzo Pitti einem Kind Misstrauen entgegenbringen? Ein Kind im Alter seiner Enkelin Francesca würde wohl kaum auf die wahnwitzige Idee kommen, Ausstellungsstücke aus den Königsgemächern, Bilder aus der palatinischen Galerie, Preziosen der Medici oder Gemälde von Michelangelo, der Maria de Medici so wunderschön gemalt hatte, zu stehlen. Zumal das ohnehin schier unmöglich war. Die Alarmanlagen des Palazzo Pitti galten unter Experten als perfekt. Bewegungsmelder, Infrarotsensoren, Überwachungskameras, Panzerglasvitrinen: Nein, jeder Versuch, diese kostbaren Schätze zu stehlen, war zum Scheitern verurteilt. Auch das war ein Grund, warum Leonardo Frattini nicht begriff, was da um ihn herum geschah.

Er ärgerte sich vielmehr ein wenig darüber, dass er wie zu einer Salzsäule erstarrt vor der Vitrine mit dem Plastiksprengstoff stand: unfähig sich zu bewegen, unfähig etwas zu unternehmen. Er fühlte sich so, wie sich ein Soldat fühlt, der auf eine jener Landminen getreten ist, die nicht explodieren, wenn man auf sie tritt, sondern erst dann, wenn der Fuß sich hebt und der tödliche Mechanismus ausgelöst wird. In solchen Momenten wird einem bewusst, dass es völlig egal ist, was man selbst tut. Man kann nur warten – und hoffen. Genau so fühlte Leonardo Frattini sich in jenem Moment, einen Schritt entfernt von der mit Goldschmuck und Edelsteinen so prachtvoll dekorierten Vitrine im Palazzo Pitti, unterhalb des Giardino di Boboli von Florenz. Die Alarmanlage schrillte noch immer. Irgendwie klang sie erbärmlich mickrig. Sein Kollege Vincenzo stand ebenfalls vor der Vitrine und starrte auf die Knetmasse. Fragend blickte er dem arabischen Jungen hinterher. Dann drehte er sich zu seinem Kollegen um. Leonardo blickte Vincenzo an. Und beide wussten, dass es Sprengstoff war, der jeden Augenblick explodieren würde.