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Marie-Claire schaute auf die Uhr. Es war schon Viertel vor eins. Francis Roundell sollte kurz vor zwölf planmäßig in Schwechat landen. Wahrscheinlich saß er schon im Café. Ihr Blick wanderte noch einmal zu der ein wenig ordinär aussehenden Frau in dem engen Kostüm mit dem waghalsigen Dekolleté. Sie hielt jetzt einen Zigarillo zwischen Zeigefinger und Mittelfinger und wühlte ostentativ in ihrer Handtasche. Der Beau am Nebentisch ahnte offensichtlich, dass sie hoffte, er würde ihr Feuer geben. Er tat ihr den Gefallen nicht. Stattdessen versteckte er sich hinter der Speisekarte, ignorierte die Blicke der Gucci-Schönheit und zeigte nur noch seine perfekt manikürten Finger am Zeitungsrand. Seine braun gebrannten Hände und Unterarme ließen Marie-Claire de Vries erahnen, dass er zu lange unter der Höhensonne gelegen hatte. In Wien, so hatte sie mit Genugtuung nach der Rückkehr aus ihrem Urlaub am gestrigen Abend erfahren, hatte es in den letzten zehn Tagen fast nur geregnet. Sie schmunzelte vor sich hin und wollte gerade zum Eingang des Cafés gehen, als Francis Roundell mit einem Taxi vorfuhr. Er stieg aus, zog einen kleinen Handkoffer hinter sich aus dem Fond und schritt zielstrebig auf sie zu.

»Marie-Claire«, ließ er seine markante Stimme über die Terrasse hallen, »Sie sehen umwerfend aus! Sie werden immer schöner.«

Die Köpfe von gut zwei Dutzend Gästen auf der Terrasse flogen herum. Marie-Claire de Vries errötete. Francis war ein unverbesserlicher Charmeur, was vielleicht mit seiner französischer Abstammung zu erklären war. Seine Komplimente waren schnörkellos und ehrlich. Was er sagte, meinte er.

»Sie wissen, Francis, dass Sie mich verunsichern, wenn Sie so flirten«, lächelte Marie-Claire de Vries und streckte dem Mann mit den Augen eines Jagdterriers ihre Wange entgegen. Diese braunen, lebhaften Augen waren Francis Roundells Markenzeichen. Jeder bei Christie’s nannte ihn deshalb den »Terrier«, denn das war er, zumindest in seinem Beruf als Sicherheitschef: ein Terrier. Gertenschlank, groß gewachsen und mit eingefallenen Wangen wirkte er zwar stets ein wenig kränklich, aber Francis Roundell war unglaublich zäh und beharrlich. Er hatte einen ausgesprochen analytischen Verstand und war ein passionierter Edelsteinexperte. Das hatte ihm den Karrieresprung vom Beamten bei Interpol zum Sicherheitschef im Auktionshaus Christie’s ermöglicht. Seit mehr als zehn Jahren leitete er nun die internationale Abteilung für Sicherheitsfragen. Francis war die perfekte Symbiose aus Kunstsachverstand und kriminalistischem Spürsinn, sprach Deutsch und vier andere Fremdsprachen nahezu fließend. Und Francis war ein Gentleman des alten Schlages. Nie gab sich der Endfünfziger einer Frau gegenüber »anlassig«, wie man in Wien sagt. Sie erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen. Galant und charmant, wie er es stets war, hatte er ihr damals die Tür zum Restaurant aufgehalten und ihr den Vortritt gelassen. Ein wenig verunsichert hatte sie geflüstert: »Das ist sehr nett – aber nicht nötig.«

Daraufhin hatte er lapidar geantwortet: »Meine gute Erziehung, Mademoiselle de Vries, die ich, das sei nebenbei bemerkt, meinen hoch geschätzten Eltern zu verdanken habe, verbietet mir, eine außergewöhnlich attraktive Frau wie Sie anzustarren. Auch wenn es mir meine darwinistisch-soziologisch erklärbare Veranlagung als Mann nahe legt, es zu tun! Da kollidieren dann freilich Gene mit guter Erziehung! Meine Eltern konnten mir bei all ihren gut gemeinten Ratschlägen jedoch nicht vermitteln, wie ich einer Dame die Tür aufhalten kann, ohne ihr beim Passierenlassen auf ihre dem Antlitz abgewandten Körperpartien zu schauen. Der Stillose stiert – und der Gentleman genießt, was an ihm vorbeidefiliert! Sie sehen also, Marie-Claire, eine gute Erziehung ist manchmal der wahre Schlüssel zu den kleinen wie auch großen Erfolgserlebnissen des Lebens.«

Das war Francis Roundell, wie sie ihn kannte. Und er wäre nicht der, den alle bei Christie’s schätzten und ihn ob seiner Wortgewandtheit verehrten, hätte er damals nicht noch in seiner köstlichen britisch-überheblichen Manier als Wortspielerei hinzugefügt: »Die niedrigen gallischen und alemannischen Völker vom europäischen Kontinent nennen solche Gesten der Höflichkeit einer Dame gegenüber ja schließlich nicht ohne Hintergedanken ›rücksichtsvoll‹. Schließlich kann die rückwärtige Ansicht einer Dame den Gentleman aufs Höchste begeistern! Was für ein Glück, dass wir jene barocken Zeiten hinter uns haben, da die Herren an den Türen einen Bückling machten und auf den Boden starrten, wenn eine Dame an ihnen vorbei in den Salon tänzelte. Nichts außer zarten Füßchen und vorbeirauschenden Röcken bekamen die Gentlemen damals als Gegenleistung für ihre Galanterie zu sehen.«

Francis’ Humor war grandios. Marie-Claire mochte ihn sehr. Und er war der einzige Mann aus der Zentrale in London, den sie ›herzte‹, wie man die Küsschen auf die linke und rechte Wange in Wien nannte. Doch so unscheinbar der eher schläfrige Sicherheitschef auch aussah und so unkompliziert er sich auch geben mochte, Francis war sehr scharfsinnig. Man durfte ihn nicht unterschätzen.

Am Eingang des Cafés blieb Francis stehen, so wie er das jedes Mal tat. Den vier hölzernen Säulen mit den eingravierten Aphorismen und Sprüchen schenkte er bei jedem Besuch seine besondere Aufmerksamkeit. Immer wieder starrte er auf die Säulen, suchte – und fand.

»Schauen Sie, Marie-Claire! Köstlich, wahrlich ein vortrefflicher Spruch.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Säule. »Was ist Ehre, ein Wort?«, stand dort geschrieben. Marie-Claire lächelte. Sie wusste, dass Francis jetzt sicherlich eine halbe Stunde laut über diesen Spruch nachdenken und sie mit seinen philosophischen Anwandlungen malträtieren würde.

In dem wie immer gegen Mittag von lärmenden Schauspielern, Künstlern und mehr oder minder hochrangigen Beamten des gegenüberliegenden Rathauses und der nahen Hofburg gefüllten Nobelcafé stank es fürchterlich nach Zigarre und nach frischer Druckerschwärze von den herumliegenden Zeitungen. Der Lärm war unerträglich. Die weiße Tischdecke in dem reservierten Separee wies hässliche Kaffeeflecken auf. Ein halb volles Glas Wein stand noch auf dem Tisch. Ein Kellner huschte zweimal vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Marie-Claire sah in Francis’ Augen, was geschehen würde, als der Kellner schließlich kam.

»Grüß Gott«, nuschelte dieser, blieb im Türrahmen gut einen Meter entfernt von ihrem Tisch stehen und fragte eher missmutig: »Was wünschen die Herrschaften?«

»Die Herrschaften wünschen, dass Sie den lieben Gott tatsächlich freundlich grüßen und ihm von einem britischen Besucher mit einem ausgeprägten Sinn für Ästhetik ausrichten lassen, er möge sich doch freundlichst entweder für braune oder für weiße Tischdecken entscheiden. Diese hier, die weiß-braun getüpfelte im Kaffeeflecken-Look, passt so gar nicht zum Kostüm meiner charmanten Begleiterin! Und falls es nicht der liebe Gott sein sollte, der in Ihrem altehrwürdigen Etablissement für solch schnöde Dinge wie saubere Tischdecken zuständig ist, bitte ich höflichst, die Hausdame zu involvieren.«

Marie-Claire atmete tief durch. Das war der andere Francis! Der Terrier. Wenn er sich an etwas festgefressen hatte, konnten seine verbalen Tiraden wie Bisse schmerzen. Der Kellner verdrehte ungläubig die Augen. Sein volles Tablett geriet ins Wanken. Er wollte antworten, aber Francis wies ihn in perfektem Deutsch in seine Schranken.

»Es ist zwar sehr nett und fraglos Ausdruck der hinlänglich bekannten österreichischen Gastfreundschaft, dass Sie mir das Glas mit dem Weißwein von meinem letzten Besuch vor einem Monat auf dem Tisch haben stehen lassen, Herr Ober, aber meine charmante Begleiterin und auch meine Wenigkeit haben umdisponiert und uns für eine Flasche Ihres köstlichen Wachauer Federspiel-Rieslings entschieden.«

Marie-Claire glaubte für Momente, der Oberkellner würde wagen, das zu sagen, was er offensichtlich auf der Zunge hatte. Doch der Dickbäuchige räusperte sich nur kurz, schluckte konsterniert, räumte das Glas und die zerfledderten Zeitungen ab und murmelte im Weggehen ein halbherziges »’schuldigen’s! Selbstverständlich, wie die Herrschaften wünschen …«