Heute aber stand Bernhard Kleimann absolut nicht der Sinn nach den architektonischen und kulturellen Schönheiten dieser alten und doch auch so modernen Stadt. Er war zutiefst beunruhigt. Nur widerwillig gestand er sich ein, dass die Operation Mraksch völlig aus dem Ruder lief. Sein italienischer Kollege und er hatten sich daher nach dem heutigen Meeting mit den marokkanischen Kollegen hierhin zurückgezogen, um die Situation realistisch zu bewerten. Realistisch hieß in diesem Falle, dies ohne marokkanische Geheimdienstleute und Polizisten zu tun. Denn die, darüber war er sich ebenso im Klaren wie Gianfranco Moreni, kochten ihr eigenes Süppchen. Zwar waren die Kollegen immer sehr nett, vermeintlich kooperativ und letztendlich auch sehr effizient. Aber Effizienz à la Maroc, so hatte es Gianfranco vor einer halben Stunde so treffend wie auch zynisch umschrieben, »… heißt nicht, Probleme nach demokratischen, rechtsstaatlichen Prinzipien und mit kriminalistischer Perfektion zu lösen – sondern sich bei Problemen der Schusswaffe zu bedienen.«
Damit hatte er die seltsamen Todesumstände des italienischen Kommissars Carlo Frattini gemeint. Offiziellen Verlautbarungen der marokkanischen Behörden zufolge war der Sohn des im Palazzo Pitti umgekommenen Museumswärters von unbekannten Tätern auf offener Straße überfallen, durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe getötet und seines Fahrzeugs beraubt worden. Am helllichten Tag und auf einer belebten Hauptstraße. Das war die marokkanische Version, die von höchster Stelle in Rabat sogar dem italienischen Außenministerium in Rom »mit Bedauern« übermittelt worden war. Dass Gianfranco Moreni als altgedienter Kriminalist und langjähriger Leiter der Mordkommission in Palermo sehr wohl den Unterschied zwischen einem Schuss aus einer Handfeuerwaffe aus nächster Nähe und einem Schuss aus einem Gewehr mit kleinkalibriger Highspeed-Munition kannte, schienen die marokkanischen Kollegen nicht einmal in Erwägung gezogen zu haben, als sie Moreni erlaubt hatten, die Leiche des toten Commissario zu identifizieren. Seither war dieser sehr erregt, was noch immer nicht zu überhören war.
»Bernardo, ich weiß nicht, ob ich lieber schreien oder schweigen soll! Die haben Carlo Frattini liquidiert, glaub es mir! Die Leiche hatte einen Einschuss im Kopf, die zweifelsfrei erkennen ließ, dass der Schütze von einer erhöhten Position aus geschossen hat. Der Schusskanal lief von oben in der Schläfe nach unten zum Wangenknochen auf der anderen Seite des Gesichts. Vorne ein kleines Loch. Hinten ein kleines Loch. Typisch für kleinkalibrige Hochgeschwindigkeitsmunition – die übrigens international verboten ist. Nur Killer verwenden diese Munition! Nix da, Schuss aus nächster Nähe! Die haben ihn liquidiert. Und damit war das Problem des rachelüsternen Polizisten aus Italien gelöst. Die scheren sich um nichts, die lösen hier Probleme anders. Und so werden sie auch weiterhin agieren!«
Bernhard Kleimann schwieg betroffen. Er wusste, dass sein italienischer Kollege Recht hatte. Er wusste aber auch, dass es nichts brachte, den mysteriösen Tod von Carlo Frattini an die große Glocke zu hängen. Öffentlichkeit war das Letzte, was man in diesem sensiblen Fall gebrauchen konnten. Niemand in Rom und Lyon wusste so genau, was um Carlo Frattini herum geschehen war. Spielraum für abstruse Vermutungen gab es genug. Was hatte der Sohn des toten Museumswächters in Marrakesch gemacht? Wieso hatte er seine gesamten Ersparnisse zusammengekratzt, um diese Reise finanzieren zu können? Stand sein Tod etwa im Zusammenhang mit dem zweier Marokkaner, über den die hiesigen Medien berichtet hatten? Der Einzige, der dazu etwas hätte sagen können, war tot.
»Wir werden kaum Antworten auf unsere Fragen bekommen«, versuchte Bernhard Kleimann seinen italienischen Kollegen ein wenig zu beruhigen. »Es ist eine heikle Sache. Die Marokkaner sind ohnehin nicht gerade hoch erfreut, dass wir von Interpol hier mit dabei sind. Die wären froh, wenn sie die ganze Sache alleine regeln könnten. Aber die neusten Entwicklungen haben den marokkanischen Sicherheitsbehörden auch gezeigt, dass sie uns brauchen. Das ist alles so verflucht verworren, dass auch ich ehrlich gesagt nicht mehr weiß, wie ich damit umgehen soll. Was, zum Teufel, macht diese Marie-Claire de Vries jetzt plötzlich hier in Marrakesch? Ich verstehe das nicht!«
Gianfranco Moreni schien sich dazu durchgerungen zu haben, nicht mehr über den Tod seines Kollegen Frattini nachzudenken. Bevor er antwortete, schaute er sich allerdings auffällig misstrauisch um, ob in ihrer unmittelbarer Nähe noch andere Zuhörer saßen. Leise sagte er dann: »Auch wenn ich diesen Typen hier bei den Behörden nicht so recht traue, so gehe ich doch davon aus, dass sie in der Lage sind, Passdaten richtig zu lesen. Es war Marie-Claire de Vries! Diese Mitarbeiterin von Christie’s ist hier in Marrakesch angekommen. Zusammen mit Abdel Rahman, alias Faisal Ben Ait Haddou – alias Jilani Rezaigui. Sie sind von Wien über Casablanca nach Marrakesch geflogen. Laut Oberst Semouri sitzen die beiden seit gestern in einer Wohnung auf der anderen Seite des Golfclub-Hotels, in einer der Eigentumswohnungen, die zum Reitclub gehören. Raffiniert ausgesucht, diese Verstecke! In der riesigen Anlage herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Da fallen Fremde nicht auf. Man hat zwei Wohnungen auf dem gleichen Terrain – mit unterschiedlichen Zufahrtsstraßen und vielen Fluchtmöglichkeiten! In der einen sitzen die Leute fürs Grobe, die Handlanger, in der anderen wohnt der Anführer. Sie werden nie zusammen gesehen, obwohl sie nur knapp fünfhundert Meter voneinander entfernt sind. Aber jetzt wissen wir zumindest, wo sich Abdel Rahman versteckte! Und Marie-Claire de Vries ist ebenfalls dort. Ich hoffe nur, dass diese Wohnung auch das Versteck für die beiden geraubten Diamanten ist.«
»Ich glaube schon«, antwortete Bernhard Kleimann. »Abdel Rahman hat sich extrem konspirativ verhalten, als sie zu dieser Wohnung gefahren sind. In einem der abgehörten Telefonate hat er eine Formulierung verwendet, aus der man schließen kann, dass er die beiden geraubten Diamanten hier hat. Allerdings verstehe ich nicht, warum diese Marie-Claire jetzt hier auftaucht. Ist sie denn eine Komplizin? Auf jeden Fall hat sie ein Verhältnis mit diesem Araber. Die Kollegen in Wien haben die beiden auf dem Weihnachtsmarkt beobachtet. Am nächsten Morgen kam er aus ihrer Wohnung. Jetzt ist sie plötzlich hier, obwohl sie doch in die Schweiz hatte fliegen wollen. Das ist schon alles sehr verworren! Ich verstehe auch nicht so ganz, wieso Francis Roundell hier bald auftauchen wird. Das ist für ihn sehr risikoreich! Die abgehörten Telefongespräche sind aber eindeutig. Er kommt her! Und, ehrlich gesagt, Gianfranco, ich freue mich schon auf den Moment, wenn ich Francis hochnehmen kann. Er ist ein Saukerl. Er hat versucht, mich, als seinen alten Freund und Kollegen, für seine dreckigen Spielchen zu missbrauchen, die er vermutlich schon seit Jahren treibt. Er als Sicherheitschef bei Christie’s hat die besten Kontakte. Er sitzt mittendrin in der Schmuck- und Kunstszene. Niemand wäre doch auf die Idee gekommen, dass er sein Wissen für krumme Geschäfte nutzt. Daher sehne ich mich regelrecht nach einem Wiedersehen. Ich kann nur hoffen, dass die Marokkaner nicht wieder eigene Wege gehen, ohne uns darüber zu informieren. Die sind seit den Anschlägen von Casablanca so paranoid, was Terroristen betrifft, dass sie am liebsten alles abknallen, was ihnen diesbezüglich Probleme bereiten könnte. Die scheren sich einen Dreck um rechtsstaatliche Spielregeln.«