»Ich … ich verstehe das nicht!«, stotterte Marie-Claire de Vries. Sie spürte, wie ihr Schweißperlen auf die Stirn traten.
Wie konnte es geschehen, dass sie den Reisepass von Cathrine in der Handtasche hatte? Wann war das passiert? Angestrengt dachte sie nach und ihr fiel eine mögliche Erklärung ein: Vor drei Monaten waren sie und Cathrine zusammen in Rom gewesen. Hatten sie damals im Hotelzimmer in Rom versehentlich ihre Pässe vertauscht? War es möglich, dass sie beide seitdem mit falschen Pässen reisten? War es möglich, dass auf ihrer gesamten Reise nach Ägypten niemandem aufgefallen war, dass sie den Reisepass ihrer Zwillingsschwester benutzte? Ihr selbst auch nicht? War das möglich? Ihre Gedanken überschlugen sich. Ja, wieso nicht? Cathrine und sie sahen sich im realen Leben und auch auf den Passbildern täuschend ähnlich. Dann noch derselbe Familienname, dieselbe Staatsangehörigkeit, dasselbe Geburtsdatum, derselbe Wohnort: Wien! Cathrine war also mit ihrem Reisepass unterwegs. Und sie war weit weg, in Marrakesch – und in Gefahr. Vielleicht sogar in Lebensgefahr! Wenn sie jetzt hier in Zürich festgenommen oder zumindest länger aufgehalten würde, was würde dann in Marrakesch geschehen? Würde Abdel Rahman …? Marie-Claire begriff, dass sie die Polizisten nur dann von der Richtigkeit ihrer Geschichte überzeugen konnte, wenn sie noch irgendein anderes Personaldokument vorzuweisen hatte.
»Um Gottes willen«, blickte sie die beiden Polizisten flehend an. »Das ist der Reisepass meiner Zwillingsschwester. Wir müssen ihn vertauscht haben. Wir sind eineiige Zwillinge. Das Ticket hatte ich heute telefonisch bestellt. Der Frau am Schalter ist wohl nicht aufgefallen, dass es ein Pass mit einem anderen Vornamen ist.«
Hektisch kramte sie in ihrer Handtasche. Der Führerschein! Ja, auf dem Führerschein stand ihr richtiger Name – mit Bild! Auf der Kreditkarte auch – allerdings ohne Bild. Auf ihrem Dienstausweis, ja, auf dem Hausausweis von Christie’s war auch ihr Bild, ihr richtiger Name, ihre Anschrift. Sie gab den Polizisten alle Dokumente. Siedend heiß wurde ihr plötzlich bewusst, dass es nicht das Problem war nachzuweisen, dass sie Marie-Claire de Vries war. Das Problem war, dass sie jetzt keine gültigen Reisedokumente mehr besaß. Sie würde nicht weiterreisen dürfen, bis das alles geklärt war. Sie würde nicht nach London kommen, um die Dokumente zu holen, die Abdel Rahman haben wollte! Und sie würde nicht nach Marrakesch weiterfliegen können! Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen.
»Hier, schauen Sie …«, presste sie hervor und zog ein Bild aus der Brieftasche. Es zeigte Cathrine und sie vor der Spanischen Treppe in Rom. Auf der Rückseite des Fotos stand ein Datum. »Hier, bitte, sehen Sie. Wir sind Zwillinge.«
»Wie heißt Ihr Sicherheitschef, Madame de Vries?« Sie hörte die Stimme des Polizisten wie in Trance, verstand aber nicht, was er mit dieser Frage bezweckte. Prüfend hielt er ihren Hausausweis in der Hand.
»Roundell … Francis Roundell«, schluchzte sie. Der Polizist wirkte plötzlich sehr ernst. Er fuhr die Gaffer an.
»Gehen Sie weiter! Hier gibt es nichts zu sehen!« Dann tat er einen Schritt auf Marie-Claire zu und fasste sie am Arm: »Ich muss Sie bitten, mir auf die Wache zu folgen. Sie sind vorläufig festgenommen.«
*
Abdel Rahman alias Faisal Ben Ait Haddou alias Jilani Rezaigui versuchte, seine Nervosität zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Unruhig ging er zum Fenster und schaute durch den Vorhang hindurch auf den Weg, der vom Parkplatz des Reitstalls zu der Wohnung führte, in der er sich aufhielt. Er konnte nichts Auffälliges feststellen, dennoch hatte er ein ungutes Gefühl. Sein sechster Sinn sagte ihm, dass da draußen seltsame Dinge geschahen. Sechs Autos waren dort unten geparkt. Es waren die gleichen Fahrzeuge wie am frühen Morgen. Sie gehörten reichen Marokkanern, die sich eine Eigentumswohnung in dieser noblen Clubanlage erlauben konnten. Insgesamt standen sechs Häuser auf dem Terrain. In jedem waren ein Dutzend Wohnungen untergebracht. Die meisten davon waren Maisonettewohnungen mit zwei Etagen und sechs Zimmern. Anonymität und Diskretion waren hier oberstes Gebot. Er wusste, dass ein General der marokkanischen Armee in dem gegenüberliegenden Wohnblock gleich zwei Wohnungen besaß. In einer der Wohnungen des Generals hielten sich zwei sehr junge Frauen auf. Er sah sie manchmal abends durch die Gardinen hindurch. Es waren offensichtlich heimliche Gespielinnen des Generals, der immer nur am Wochenende kam.
Abdel Rahman schaute auf die Uhr. In der Schweiz war es jetzt neun Uhr. Vor knapp vier Stunden hatte er mit Marie-Claire telefoniert. Sie hatte laut aufgeschrien, als sie gehört hatte, dass Cathrine mit ihm in Marrakesch sei. Und sie hatte ihn unflätig beschimpft, als sie erfuhr, dass Cathrine freiwillig mit ihm geflogen war. Das hatte Marie-Claire nicht geglaubt. Also hatte er ihr erzählt, wie er Cathrine am Tag nach dem Besuch des Weihnachtsmarktes angerufen und sie sich mit ihm verabredet hatte – nur wenige Stunden nachdem er Marie-Claires Wohnung am frühen Morgen verlassen hatte. Abdel Rahman grinste dämonisch. Es hatte ihm gefallen: zwei Schwestern innerhalb von vierundzwanzig Stunden! Eine hübscher als die andere. Und dann auch noch Zwillingsschwestern! Selbst ihre Körper waren sich sehr ähnlich. Und eine war geiler als die andere. Die eine liebte die harte Art. Die andere war so heiß auf ihn gewesen, dass sie sich schon mittags nach dem Essen in der Toilette des Restaurants von ihm hatte bumsen lassen. Und abends im Hotel dann noch einmal. Immer wieder. Schließlich war sie ihm auf die Nerven gegangen. Hätte sie nicht plötzlich angefangen, von der Arbeit ihrer Schwester Marie-Claire zu erzählen, hätte er sie wahrscheinlich aus dem Hotelzimmer hinauskomplimentiert. Aber dann war dieser eine Satz gefallen. Diese Sache mit der Statue, in der angeblich ein Schatz versteckt sein sollte! Ein einziger Satz aus dem Mund von Cathrine hatte den Dingen plötzlich eine andere Wende gegeben. So heiß, wie sie auf ihn war, so dumm schien sie auch zu sein. Ohne dass er sie überhaupt gefragt hatte, erzählte sie von dem Geheimauftrag ihrer Schwester, von dem Dossier bei Christie’s in London. Und ihm war klar geworden, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Florentiner, dem Buchmanuskript und diesem Schatz – und damit auch einen Zusammenhang zwischen den beiden Sancys und dem Florentiner gab.
Plötzlich sah er vieles in einem anderen Licht, er begriff vieles: Der Scheißkerl Roundell wollte ihn aufs Kreuz legen! Da lief ein wahnwitziges Ding ab. Hier ging es nicht um schnöde Diamanten, die später an die Versicherungsgesellschaften verkauft werden sollten. Es ging es um viel mehr! Roundell hatte ihm lediglich gesagt, dass diese drei Diamanten einen enormen Wert hätten, weil sie früher einmal zusammengehört hatten. Aber das war wohl nur die halbe Wahrheit gewesen. Er erkannte, dass er mit Cathrine de Vries völlig unerwartet einen Joker in der Hand hielt. Mit ihr als Geisel würde er von Marie-Claire de Vries all das bekommen, was Roundell brauchte: das Buchmanuskript – und die geheimen Unterlagen über diese Auktion bei Christie’s vor so vielen Jahren. Jene Unterlagen, aus denen offensichtlich hervorging, wer den Florentiner-Diamanten jetzt besaß. Die beiden Sancy-Diamanten hatte er bereits. Sie lagen im Wohnzimmer nebenan in einem Aquarium im Sand versteckt. Wie zwei kleine, glitzernde, von Goldfischen bewachte Kieselsteinchen sahen sie aus. Bislang waren sie nur ein paar Millionen Euro wert gewesen. Jetzt aber ging es um einen Schatz – um unvorstellbaren Reichtum! Und jetzt war er, Abdel Rahman, mit von der Partie! Roundell hatte keine andere Chance. Was immer das für ein legendärer Schatz war, um den es hier ging, ohne ihn würde Roundell diesen Coup nicht durchziehen können. Wenn Marie-Claire de Vries morgen käme und diese Unterlagen mitbringen würde, wäre man dem Besitzer des Florentiners einen entscheidenden Schritt näher. Und damit dem Schatz. Er aber hatte die beiden Sancys. Wenn, wie Cathrine de Vries es so dahingeplappert hatte, alle drei Edelsteine zum Öffnen der Statue erforderlich waren, kam Roundell jetzt nicht mehr an ihm vorbei. Roundell war zwar der Einzige, der offensichtlich wusste, wo diese Statue sich befand, aber ohne die beiden Sancys lief nichts. Und wo die versteckt waren, wusste Roundell nicht!