Abdel Rahman lächelte süffisant vor sich hin. Die war wirklich zu dämlich, diese Cathrine de Vries! Eine von diesen frustrierten und nicht ausgelasteten Huren, die zu Hause einen stinkreichen Mann sitzen haben, sich aber von anderen Männern vögeln lassen und dann anfangen zu plappern. In dem Moment, als er erkannte, was er mit Cathrine de Vries in der Hand hatte, in diesem Moment hatte er entschieden, Cathrine de Vries nach Marrakesch zu locken und sie dann als Geisel festzuhalten. Es war ihm danach nicht sonderlich schwer gefallen, sie die ganze Nacht hindurch zu verwöhnen, den zärtlichen, einfühlsamen und vernarrten Liebhaber zu spielen. Einer, der davon träumt, sie als Frau zu haben. Für immer und ewig. Und sie hatte ihm das tatsächlich abgenommen. Eine Nacht hatte er gebraucht, um sie dazu zu kriegen, mit ihm nach Marrakesch zu fliegen. Mit völlig verklärtem Blick war sie nach Hause gefahren, hatte Pass, Geld, Kreditkarten und ein paar Kleider eingepackt und war mitgekommen. Doch wie hatte sie dann geschrien und um sich geschlagen, als er ihr hier in der Wohnung die Wahrheit gesagt hatte. Und die Wahrheit war sehr einfach: Entweder Marie-Claire schaffte dieses Buchmanuskript und die geheimen Unterlagen aus dem Christie’s-Archiv heran, oder ihre Zwillingsschwester würde sterben! Genau das hatte Cathrine de Vries ihre Schwester am Handy wissen lassen. Jetzt lag sie oben im Zimmer und schlief. Er hatte sie am Bett festgebunden und mit einem Betäubungsmittel in Tiefschlaf versetzt. Abdel Rahman fragte sich, ob Marie-Claire tun würde, was er von ihr verlangte. Oder war sie cleverer als ihre Schwester, die offensichtlich glaubte, sie würde Marrakesch jemals wieder lebend verlassen? Cathrine glaubte das wirklich und war sich absolut sicher, dass Marie-Claire seinen Forderungen nachkommen würde.
»Meine Schwester liebt mich – sie würde alles tun, um mir zu helfen! Wir sind Zwillingsschwestern«, hatte sie geschluchzt.
Abdel Rahman schaute noch einmal aus dem Fenster. Draußen vor dem Haus war nach wie vor alles ruhig. Der Abendhimmel war von den Lichtern der nahen Stadt erhellt. Es erinnerte ihn daran, dass er heute einen Zettel im Postfach gefunden hatte. Die Verwaltung des Reitclubs teilte darin mit, dass morgen Abend im Club, in den dazu gehörenden Wohnanlagen sowie im Hotel Palmeraie eine routinemäßige Notfallübung der Feuerwehr von Marrakesch stattfinden würde, in dessen Rahmen es zu Lärm- und Rauchbelästigung kommen könne. Auch am Parkplatz stand das auf einem großen Plakat geschrieben, verbunden mit dem Hinweis, dass die Zufahrtswege zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Uhr gesperrt seien. Es ärgerte ihn ein wenig. Er verstand nicht, warum das so spät mitgeteilt wurde. Wie auch immer: Genau zu dieser Zeit würde Marie-Claire de Vries morgen Abend ankommen. Und Francis Roundell. Das würde eine große Überraschung werden. Roundell wusste weder, dass Marie-Claire auf dem Weg nach Marrakesch war, noch dass Abdel Cathrine de Vries als Geisel genommen hatte. Marie-Claire wiederum ahnte nicht, dass Roundell hier sein würde. Und beide wussten sie nicht, dass er, Abdel Rahman, jetzt ebenfalls über den Schatz in der Statue Bescheid wusste.
Würde Marie-Claire so handeln, wie ihre Schwester das glaubte und wie er das erwartete? Oder hatte sie so etwas wie Stolz und Ehrgefühl? Hasste sie Cathrine jetzt? Schließlich hatte sie mit dem Telefonat erkannt, dass ihre eigene Schwester sie betrogen hatte. Würde sie jetzt noch die Unterlagen bringen, um ihre Schwester zu retten?
Eine andere Frage, die er sich seit gestern stellte, war, wieso Roundell sich nicht selbst diese Unterlagen aus dem Christie’s-Archiv besorgte. Er saß doch als Sicherheitschef von Christie’s an der Quelle. Wieso musste Roundell warten, bis Marie-Claire diese Dossiers hatte? Das war etwas, das Abdel Rahman nicht begriff. Doch das würde sich sicherlich mit dem Kommen von Francis Roundell klären. Seine Gedanken wanderten zurück zu Marie-Claire. Es machte ihn nervös, dass er nicht genau abschätzen konnte, wie sie nun handeln würde. Was hatte sie ins Telefon geschrien? »Ich bringe dich um!«
*
Francis Roundell war die Fliegerei absolut leid. Erst letzte Nacht war er aus Indien zurückgekehrt. Der Zeitunterschied und der extreme Klimaumschwung steckten ihm noch in den Knochen, zumal er nur zwei Tage Zeit gehabt hatte für die Dinge, die er in Jaipur hatte erledigen müssen. Dafür aber war dort alles perfekt gelaufen. Der Zugang zu der Statue war jetzt endgültig gewährleistet. Der Inder, den er nicht sonderlich mochte, hatte sich mit den Verfahrensweisen und vor allem mit den finanziellen Abmachungen einverstanden erklärt. Alles war jetzt nur noch eine Frage der Zeit. Die beiden Sancys hatte er schon. Den Florentiner würde er ebenfalls bald besitzen.
Auch wenn er mit allem zufrieden sein konnte, war er müde und abgespannt. Eigentlich hatte er ab morgen zwei Tage Urlaub. Daher stand ihm absolut nicht der Sinn danach, jetzt nach Marokko zu fliegen, zumal er es nicht für besonders klug hielt, derzeit mit Abdel Rahman zusammenzutreffen. Es gab zwar keine wirklich konkreten Hinweise darauf, dass die internationalen Ermittlungsbehörden aktiv waren, aber genau das beunruhigte ihn. Es konnte der Eindruck entstehen, als seien die spektakulären Raubüberfälle in Bayern und Florenz vergessen. Das war jedoch mit Sicherheit nicht der Fall. Francis Roundell kannte seinen ehemaligen Kollegen Bernhard Kleimann gut genug. Seit fast einer Woche versuchte er ihn zu erreichen. Nach ihrem Zusammentreffen in Lyon hatten sie kaum miteinander gesprochen. Das musste nicht unbedingt etwas bedeuten, es konnte aber auch ein Indiz dafür sein, dass die Operation Mraksch in der heißen Phase war. Und Kleimann gehörte zu dieser Sonderermittlungsgruppe. Nein, jetzt nach Marrakesch zu fliegen war wirklich nicht klug. Zumal er weitaus Wichtigeres zu tun hatte. Auch mit Marie-Claire de Vries hatte er schon viel zu lange nicht mehr telefoniert. Sie war in die Schweiz geflogen und hatte sich von dort nur kurz gemeldet. Was sie genau dort machte, wusste er nicht. Sie schwieg sich über ihre Aktivitäten aus. Ihr Bericht war längst überfällig. Francis hatte das Gefühl, als lasse sich Marie-Claire absichtlich Zeit mit dem Schreiben des Berichts. Im Zentralarchiv von Christie’s war sie noch nicht gewesen, das hatte er in Erfahrung gebracht. All das beunruhigte ihn.
Und jetzt dieser höchst eigenartige Anruf von Abdel Rahman. Was nur wollte der Araber? Er war sich ganz sicher, dass Abdel Rahman irgendetwas im Schilde führte. Aber was? Francis spürte, dass die Dinge irgendwie aus dem Ruder liefen. Abdel hatte sich zwar sehr bemüht, unbedarft zu wirken, aber das war ihm misslungen. Von wichtigen Veränderungen und neuen Erkenntnissen hatte er gefaselt und auf dem Treffen beharrt. Francis Roundell ging nachdenklich in seiner Wohnung auf und ab. Der Kamin flackerte unruhig. Draußen stürmte es noch immer. Hatte Abdel in Wien irgendwelche Dinge in Erfahrung gebracht, von denen er nichts wissen sollte? Vermutlich war es besser, sich schnell von dem Araber zu trennen. Für immer. Abdel wusste zu viel. Ebenso wie Marie-Claire. Wenn er sie nach Abschluss dieser Sache aus dem Wege räumen würde, wenn sie verschwunden wäre, würden das Board of Directors bei Christie’s und auch die Ermittlungsbehörden davon ausgehen, dass Marie-Claire hinter der ganzen Sache steckte. Ja, wenn Abdel Rahman und Marie-Claire unschädlich gemacht worden wären, stünde seinem Triumph nichts mehr im Weg. Drei Jahre lang hatte er die ganze Sache geplant. Das Genialste war, dass kein Verdacht auf ihn fallen würde. Geschickt hatte er sehr viele falsche Spuren gelegt. Jeder würde Marie-Claire verdächtigen, denn sie war es, die sich ja so intensiv mit dem Florentiner beschäftigte. Sie würde Einblick in die geheimen Archivunterlagen nehmen, von denen er schon längst wusste, was drinstand. Genau das war das Raffinierteste an seinem Plan. Marie-Claire de Vries lebte im Bewusstsein, dass der Auftrag für die Recherche nach dem Florentiner vom Board of Directors bei Christie’s gekommen war. Das aber stimmte nicht. In der Führungsetage von Christie’s wusste niemand etwas davon. Er hatte sie in diesem Glauben gelassen, damit sie nicht misstrauisch wurde. Marie-Claire würde, falls jemals jemand dahinterkommen würde, zur Verantwortung gezogen werden. Aber dann wäre sie längst verschwunden. Tote Zeugen konnten nun einmal nicht sprechen.