20. Kapitel
Das Flugzeug von London nach Casablanca war bis auf den letzten Platz ausgebucht. Marie-Claire war leichenblass. Ihr stand der Sinn nach Ruhe, aber ihr Leben war alles andere als ruhig. Sie brauchte dringend jemanden, der ihr half. Doch wer sollte das sein? Was sollte sie nur tun? Ihre Situation war völlig verfahren. Kaum hatte sie eine kritische Situation überstanden, da entstanden neue, schier unlösbare Probleme. Der Flughafenpolizist, der sie gestern Abend in Zürich nach dem Namen des Sicherheitschefs von Christie’s gefragt hatte, kannte Francis Roundell. Welch ein Zufall! Er hatte lange Zeit in Genf seinen Dienst versehen und war zweimal als Sicherheitsbeamter bei der alljährlichen Auktion von Christie’s im November im Einsatz gewesen. Dabei hatte er Francis Roundell kennen gelernt, und das ganz offensichtlich gut. Wie Roundell aussehe, hatte der Polizist sie auf der Flughafenwache gefragt, ob Roundell verheiratet sei und wo Roundell früher als Kriminalbeamter gearbeitet habe. Was immer der Polizist gefragt hatte, sie hatte ihm antworten können. Alles hatte sie von Francis gewusst. Das hatte sie gerettet. Es war wirklich ein sehr verständiger Beamter gewesen. Er hatte ihr schließlich geglaubt, dass sie den Pass ihrer Schwester versehentlich eingesteckt hatte. Und ebenso zeigte er Verständnis dafür, dass sie in unvorstellbare Schwierigkeiten geraten würde, wenn sie nicht nach London und dann weiter nach Marokko fliegen würde. Trotz allem hatte er sie aber auch ermahnt, dass sie sich strafbar mache, sollte sie mit diesem Pass weiterreisen.
Aber was sollte sie tun? Sie musste nach Marrakesch! Nur sie konnte diese Sache regeln. Gab es eigentlich noch jemanden, dem sie trauen konnte? Francis Roundell traute sie schon seit einiger Zeit nicht mehr so recht. Jetzt, nachdem sie im Zentralarchiv gewesen war, um sich die Dossiers zu besorgen, hatte sie sogar Angst vor ihm.
Gregor? Nein, Gregor konnte und würde ihr nicht helfen. Er war sicherlich der falsche Ansprechpartner, zumal er sich wahrscheinlich sowieso nie mehr melden würde. Und Sanjay? Er hatte sich auf ihre Fragen nach den Ostiers wirklich sehr seltsam verhalten. Einerseits sprach er immer von Ehrlichkeit und Offenheit und von dem ungewöhnlichen Vertrauen, das sie verband, aber dieser Frage von ihr war er ausgewichen und hatte sie auf später vertröstet. Was verschwieg er? Als sie ihn angerufen und ihm mitgeteilt hatte, dass sie aus familiären Gründen sehr kurzfristig aus Grandson abreisen müsse, war er sehr distanziert gewesen, was sie gut verstehen konnte. Sie konnte ihm nicht sagen, was der wirkliche Grund ihrer übereilten Abreise war. Nein, Sanjay um Hilfe zu bitten, war beim derzeitigen Stand der Dinge nicht möglich. Und der guten, treuen Seele Chrissie konnte sie zwar alles erzählen, aber helfen konnte ihre Freundin Christiane ihr ebenfalls nicht. Vor Marie-Claire lagen Entscheidungen, die ebenso dramatische wie fatale Folgen haben konnten. Ihren Job bei Christie’s würde sie sowieso verlieren, und nur sie alleine war dafür verantwortlich. Hätte sie sich nicht mit diesen drei Männern eingelassen, wäre das alles nicht passiert. Jetzt war es zu spät. Jetzt galt es einzig und alleine, Cathrine zu retten. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie musste an ihre Zwillingsschwester denken. Cathrine hatte sich an Abdel rangemacht, hatte mit ihm geschlafen! Mit demselben Mann, mit dem sie in der Nacht zuvor zusammengewesen war. Das war die eine, die grausamste Erkenntnis. Die andere, die gefährliche, war, dass Cathrine Abdel offensichtlich Details ihrer streng geheimen Recherche über den Florentiner erzählt hatte. Und das, obwohl sie Cathrine ausdrücklich gebeten hatte, mit niemandem darüber zu reden. Damit hatte Cathrine sie beide in große Gefahr gebracht. Konnte sie Cathrine das jemals verzeihen? Oder waren sie beide nur Opfer eines brutalen, skrupellosen Kriminellen? Hatte Abdel Rahman von Anfang an nur mit ihr gespielt und sie ausgenutzt? War er vielleicht sogar einer der Täter, die die beiden Sancys geraubt hatten? In den Zeitungsberichten hatte sie gelesen, dass einer der Täter wahrscheinlich durch eine Polizeikugel verletzt worden war. Als sie mit Abdel Rahman im Bett gewesen war, hatte sie eine frische Narbe an seinem Unterleib gesehen. Er hatte behauptet, sich bei einem Unfall schwer verletzt zu haben. Damals hatte sie ihm geglaubt, doch jetzt bezweifelte sie selbst die Richtigkeit seines Namens. An allem zweifelte sie.
War Cathrine an dieser verfahrenen Situation schuld? Hätte Cathrine nicht mit Abdel geschlafen und wäre sie nicht mit ihm nach Marrakesch geflogen, wäre alles sicher ganz anders verlaufen. Oder vielleicht doch nicht? Die Beantwortung dieser Frage war unwichtig geworden. Sie musste zunächst tun, was Abdel Rahman von ihr verlangte. Sie hatte das Buchmanuskript und die Unterlagen aus dem Archiv bei sich. Vor wenigen Stunden hatte sie sich die beiden Aktenordner in der Christie’s-Zentrale besorgt. Rasch hatte sie die Seiten überflogen. Der Inhalt hatte sie schockiert. Als sie während eines Gesprächs mit Luc Duchard, der im Board of Directors des Konzerns saß, feststellte, dass er über ihren Auftrag in keiner Weise informiert war, wusste Marie-Claire weder ein noch aus. Wieso wussten die Direktoren von Christie’s nichts von ihrem Auftrag? Offensichtlich hatte Francois Roundell sie angelogen. Aber warum? Seither hatte sie Angst. Entsetzliche Angst! Was von nun an geschehen würde, war nicht absehbar. Das Einzige, was derzeit feststand, war, dass sie im Flugzeug nach Marokko saß. In etwa vier Stunden würde sie in Marrakesch landen.
*
Für Hassan Jorio, Kommandant der Berufsfeuerwehr von Marrakesch, war es der aufregendste Einsatz seines Lebens. Der dickbäuchige Hüne mit dem kahlen Schädel saß in seinem Büro und zwirbelte nervös an seinem Oberlippenbart. Der Muezzin rief soeben von der nahen Moschee zum Nachmittagsgebet. Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen Dutzende Straßenkarten, Baupläne, Fahrzeug- und Personallisten. Seit zwei Tagen tat er nichts anderes, als sich auf diese Sache im Hotel Palmeraie und dem nahe gelegenen noblen Reitclub vorzubereiten. Was ihn unruhig machte, waren aber nicht die einsatztechnischen Aspekte dieser Übung, das war pure Routine. In allen größeren Hotels, Schulen und öffentlichen Gebäuden wurden in regelmäßigen Abständen solche Übungen durchgeführt. Sie liefen immer nach dem gleichen Muster ab: simulierte Brandherde im Objekt – Alarm – Ausrücken – Ankunft – Lagebesprechung mit den Abteilungsleitern der jeweiligen Einsatzgruppen – Brandherde lokalisieren – Schläuche ausfahren – Anwohner evakuieren – Wasser Marsch! Heute jedoch würde das ganz anders ablaufen. Zum einen eilten permanent hochrangige Polizeibeamte mit goldenen Schulterabzeichen und vielen Orden auf ihren Jacketts in sein Büro, hinterfragten ständig, was er tat und plante. Zum anderen gab es da die vielen Zivilbeamten, deren Namen er sich nicht merken konnte und von denen er nicht einmal genau wusste, wer sie überhaupt waren. Fest stand nur, dass es alles sehr wichtige Leute waren, die auf direkten Befehl des Innenministers handelten und deren Befehlen er widerspruchslos zu gehorchen hatte. Doch das war nicht gerade einfach. Die fürchterliche Geheimnistuerei dieser Männer ließ ihn nur erahnen, was auf ihn und seine Männer zukommen würde. Man hatte ihm nur gesagt, dass acht Löschfahrzeuge mit je zehn Feuerwehrmännern bereitstehen mussten. Zudem noch Fahrzeuge und Personal zur weiträumigen Absperrung, vier mit Ärzten und Sanitätern besetzte Notarztwagen und ein Rettungshubschrauber! Den genauen Ablauf der Übung würde er erst kurz vor dem Einsatz erfahren. Dann, dachte Hassan Jorio, würde man ihm vielleicht auch sagen, warum er noch zwanzig Feuerwehruniformen hatte besorgen müssen. Auch das war unter strengster Geheimhaltung geschehen! Auf der Materialanforderungsliste, die ihm kommentarlos auf den Tisch geknallt worden war, standen Dinge, die für solche Übungen nicht üblich waren. Zum Beispiel Löschmaterialien für Brände mit hoch explosiven Chemikalien. Und ABC-Gasmasken! Diese Liste las sich so, als würde heute in dem Luxusresort außerhalb von Marrakesch Krieg ausbrechen! Dem war vielleicht auch so. Es ging um Terroristen! Und das machte ihn nervös.