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Cathrine de Vries war aus dem Tiefschlaf erwacht. Sie war völlig benommen. Ihr erster Versuch, sich in dem Bett aufzurichten, misslang. Beide Hände waren mit Klebeband an dem hinteren Teil des Bettes festgebunden. Auch ihre Beine hatte man zusammengebunden. Cathrine war übel, sie musste würgen. Panik überkam sie. Ihr Mund war zugeklebt. Entsetzt schaute sie sich in dem Zimmer um. Die Fensterläden waren zugeklappt, die Vorhänge vorgezogen. Sie konnte an den wenigen Lichtstrahlen, die ins Zimmer fielen, nur erahnen, dass es später Nachmittag sein musste. Dann hörte sie einen Muezzin in der Nähe über Lautsprecher die Gläubigen zum Gebet rufen. Also war es ungefähr sechs Uhr, kurz vor Sonnenuntergang! Sie schien sehr lange geschlafen zu haben. Sie hatte Kopfschmerzen. Wieder bekam sie einen Würgeanfall, hyperventilierte und zwang sich, bewusst ruhig durch die Nase ein- und auszuatmen.
Dann hörte sie unten Stimmen. Angestrengt lauschte sie durch das Halbdunkel des Zimmers. War das möglich? Sie war sich sicher, Marie-Claires Stimme zu hören. Die andere Stimme war die von Abdel Rahman. Die beiden stritten sich. Dann war es plötzlich vom einen auf den anderen Augenblick still. Cathrine de Vries zerrte an ihren Fesseln, aber das Klebeband schnitt ihr in die Handgelenke. Ihre Beine waren von dem langen Liegen taub. Das da unten war tatsächlich ihre Schwester Marie-Claire.
Cathrine war unendlich erleichtert, doch gleichzeitig kam auch die Angst zurück. Sie schämte sich und fürchtete sich vor dem ersten Zusammentreffen mit Marie-Claire. Sie wusste, dass zwischen ihnen beiden nichts mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war.
Doch im Moment zählte nur die Situation, in der sie und Marie-Claire sich befanden. Sie war Geisel eines skrupellosen Gangsters, eines Arabers, der sie benutzt hatte wie eine Hure. Und sie hatte Marie-Claire mit ihrem Verhalten unendlich verletzt. Marie-Claire war nun gezwungen gewesen, ihren Auftraggeber zu hintergehen. Sie musste Unterlagen besorgen, die dieser Abdel Rahman haben wollte. Ihre Schwester machte sich dadurch strafbar, und sie hatte sich freiwillig in die Hände dieser Kriminellen begeben – um sie, Cathrine, zu retten. Würden sie und Marie-Claire Marrakesch verlassen können, sobald diese Gangster hatten, was sie wollten? Die Tür ging auf. Gegen das Licht im Treppenhaus konnte sie die Gestalt von Abdel Rahman erkennen. Daneben stand Marie-Claire. Cathrine konnte das Gesicht ihrer Schwester im Halbdunkel nicht wirklich sehen, aber sie glaubte zu spüren, wie mitleidvoll und hasserfüllt Marie-Claire sie anschaute. Abdel Rahman sprach mit ihr. Der blanke Hohn seiner Worte ließ Cathrine erschauern.
»Okay, das reicht! Du hast gesehen, dass es deiner Schwester den besonderen Umständen entsprechend gut geht. Reizvoll, der Anblick, nicht wahr? So am Bett festgebunden! Du erinnerst dich?«
Die wenigen Worte von Abdel Rahmann ließen unbändigen Hass in Cathrine de Vries aufkeimen. Sie bäumte sich auf. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, und sie war alleine mit ihrem Hass.
»Sag mir, was du von uns willst. Du wirst es bekommen. Unsere Freiheit gegen deine Gier! Das ist es doch, worum es geht, oder? Du willst den Florentiner!«
Marie-Claire de Vries versuchte gegen ihre Emotionen anzukämpfen. Der Abscheu, den sie für Abdel Rahman empfand, half ihr dabei. Sie hasste diesen Mann, wie sie nie zuvor in ihrem Leben einen Menschen gehasst hatte. Sie war sich in diesem Augenblick sicher, dass sie in der Lage wäre, diesen Mann zu töten. Der Anblick ihrer Zwillingsschwester Cathrine in dem Bett, hilflos und verzweifelt, ließ ein unbändiges Verlangen nach Rache in ihr erwachen. Das half ihr, überhaupt mit dem Araber reden zu können. Die Pistole, die Abdel Rahman vor sich auf dem Tisch liegen hatte, erinnerte sie daran, dass er ein gefährlicher, ein sehr gefährlicher Mann war.
»Du willst den Florentiner, richtig?«
»Du bist ein kluges Mädchen, Marie-Claire. Wirklich! Ich bewundere deinen Scharfsinn«, lachte er sie hämisch an.
»Ja, ich will den Florentiner. Hast du die Unterlagen mitgebracht?«
»Viele Leute wollen den Florentiner, Abdel! Viele hatten ihn schon einmal. Alle starben sie auf höchst dramatische und ungewöhnliche Weise. Ja, ich habe die Unterlagen. Aber glaube mir: An dem Diamanten hängt ein Fluch. Du solltest es dir überlegen.«
»Weißt du, wo er ist?«
»Hältst du mich für so dumm, dass ich es dir sagen würde, wenn ich es wüsste?«
»Hast du die Unterlagen mitgebracht – das Manuskript und dieses Dossier?«
»Glaubst du, ich habe diese Sachen hier in meiner Tasche? Meinst du, so blöde bin ich? Du bist so ein mieses Schwein, du würdest Cathrine und mich sofort töten, wenn ich dir die Sachen einfach so geben würde. Lass Cathrine frei. Dann bekommst du das Manuskript. Danach lässt du mich laufen und bekommst das Dossier!«
Marie-Claire begriff, dass sie und Cathrine nur so lange eine Überlebenschance hatten, wie sie die Unterlagen als Pfand besaß. Das hatte sie schon auf der Herfahrt erkannt, und daher war sie mit dem Taxi zur Rezeption des Hotels Palmeraie gefahren und hatte die beiden Umschläge dort hinterlegt und darum gebeten, sie bis zu ihrem Einchecken für sie aufzubewahren. Dann hatte sie ein Zimmer gebucht. Auf diese grandiose Idee war sie erst gekommen, als der Taxifahrer ihr auf der Fahrt vom Flughafen zu jenem Haus, das Abdel Rahman ihr am Telefon genannt hatte, von dem Hotel vorschwärmte, aber auch erwähnt hatte, dass das Hotel halb leer sei. Plötzlich fühlte sie sich siegessicher. Ja, so hatten sie und Cathrine eine Chance, hier heil rauszukommen. Eine kleine Chance zumindest.
Ihr Blick fiel auf den kleinen Tisch neben ihrem Sessel. Unter einer Zeitung schaute ein Pass hervor. Es war ein roter Pass. Sie konnte erkennen, dass in goldenen Lettern »Europäische Union – Republik Österreich« darauf stand. Der Pass von Cathrine. Abdels Worte ließen sie aus ihren Gedanken hochschrecken.
»Schade, dass du so abweisend bist. So geht das nicht, Marie-Claire! Du scheinst deine Situation und die deiner Schwester falsch einzuschätzen. Euer Leben hängt an einem hauchdünnen Faden. Und du glaubst wirklich, du könntest hier noch Forderungen stellen? Absurd! Aber vielleicht kann ich deine Bereitschaft zur Kooperation ein wenig intensivieren, wenn wir noch einmal zusammen nach oben gehen zu deiner Schwester und ich sie vor deinen Augen so verwöhne, wie ich das mit dir gemacht habe. Du hast es ja gemocht, oder? Aber vielleicht kann ich dich ja auch im gleichen Bett neben deiner Schwester festbinden und mich dann die nächsten Tage abwechselnd mit euch beiden beschäftigen. Ein sehr reizvoller Gedanke! Zwillingsschwestern. Also, überleg dir genau, was du hier daherquatschst!«