Oben in der ersten Etage explodierte das Haus. Scherben klirrten. Türen flogen aus den Angeln. Staub wirbelte auf. Lichtblitze schossen durch das schummrige Licht im Zimmer. Das Wasser des Aquariums schoss in einem mächtigen Schwall in den Raum. Das Fenster in der Essecke flog wie von unsichtbarer, mächtiger Hand eingedrückt ins Zimmer. Das Licht flackerte, ging aus und wieder an. Überall waren Lichtblitze, Lärm, Getöse und Qualm. Sie schrie. Da waren noch andere Stimmen. Hinter und vor ihr. Arabische Befehle hallten von oben herab. Sirenen heulten draußen vor dem Haus.
Marie-Claire sprang auf. Sie war taub. Der Lärm um sie herum drang nur noch gedämpft zu ihr vor. Sie wusste nicht, was um sie herum geschah. Sie wollte leben. Und sie wollte, dass Cathrine lebte.
Im Zimmer war es plötzlich dunkel. Nur die kleine Lampe in dem zertrümmerten Aquarium leuchtete noch. Sie sprang auf, stolperte über den zersplitterten Tisch vor sich direkt auf das zertrümmerte Aquarium zu. Das Funkeln der beiden Steine im Sand zog sie magisch an. Die beiden Sancys! Sie tastete sich mit der Hand durch den Sand, fühlte das harte, leblose und doch so energiereiche Gestein. Dann war um sie herum noch mehr Rauch und Gestank. Gestalten rannten umher. Sie sahen wie Feuerwehrmänner aus, aber da waren Gewehre, Pistolen, Schreie. Und da war die Treppe nach oben – zu Cathrine. Plötzlich fiel ihr der Pass ein. Sie sprang über die Couch, zerrte den Reisepass unter der Zeitung hervor und hastete zurück. Die Stufen der Treppe waren voller Schutt. Ein dumpfer Schlag riss sie zur Seite. Ihre Bluse war zerfetzt. Die Schulter blutete, aber sie spürte keinen Schmerz. Keinen körperlichen Schmerz. Sie wankte weiter die Treppe hoch – zu ihrer Zwillingsschwester. Beißender Rauch schlug ihr entgegen. Sie fühlte sich wie betäubt. Sie musste Cathrine retten.
Aber Cathrine war nicht mehr da. Marie-Claire starrte auf das Bett – auf das, was davon noch übrig war. Da war nur ein Torso: ein Oberkörper, Arme an Bettpfosten. Ein Bein. Der Unterleib fehlte. Da war viel Blut. Überall. Aber kein Mensch mehr. Keine Cathrine. Irgendetwas hatte das Bett zerfetzt. Alles roch nach Tod.
Sic sprang, ohne zu wissen, was unterhalb des aus den Angeln gerissenen Fensters sein würde. Sie sprang, weil der Schmerz in ihrer Seele sie gefühllos hatte werden lassen. Sie hörte nichts mehr, aber sie roch Feuer und Tod und Gas. Dann spürte sie im Fall den Abendwind.
Mit zwei wunderschön glitzernden, sich seltsam beruhigend anfühlenden Edelsteinen in ihrer aus Todesangst zur Faust geballten Hand schlug Marie-Claire de Vries in einem großen Strauch hinter dem Haus auf. Es war stockdunkel. Sie lag wie paralysiert auf dem Rücken inmitten des Busches. Sie sah nichts, und niemand schien sie zu sehen. Niemand stürzte sich auf sie. Niemand schoss auf sie. Dann war es plötzlich unnatürlich ruhig. Auf allen vieren kroch sie aus dem Busch, blickte nach rechts und nach links in die Dunkelheit, sah die kleine Mauer, weinte und lief schluchzend los. Sie lief um ihr Leben. Sie wusste nicht wohin, und das Warum spielte an diesem Dezemberabend in Marokko keine Rolle mehr. Sie war tot.
Oberst Khalid Semouri vom marokkanischen DST-Geheimdienst tobte. Ein Dutzend Abteilungsleiter der marokkanischen Polizei und der Geheimdienste saßen schweigend in dem Raum.
»Ich will, dass alle Flughäfen, Häfen, Busbahnhöfe und Taxizentralen informiert und überwacht werden. An allen Ausfallstraßen rund um Marrakesch werden Straßensperren errichtet. Ich will, dass niemand mehr aus diesem Land rauskommt, ohne dass ich vorher die Genehmigung dazu gegeben habe. Findet diese Frau! Tot oder lebendig, das ist mir scheißegal! Aber findet sie!«
Khalid Semouri stapfte wütend aus dem Raum. Er wusste, dass es nicht sonderlich viel Sinn hatte, was er da gesagt hatte. Er war nicht in der Position, ganz Marokko quasi von der Außenwelt abzuschneiden. Er war ganz einfach nur unglaublich verärgert. Die Aktion war letztendlich doch noch schief gelaufen und würde ihm wahrscheinlich seine Laufbahn vermasseln. Dabei lag die Schuld daran nicht bei ihm. Die Männer des Sondereinsatzkommandos hatten das Ding versaut. Es war ein perfekter Plan gewesen. Alles hatte so gut angefangen. Aufgrund der abgehörten Telefonate waren sie den Tätern immer um einen Schritt voraus gewesen. Erst war diese Frau gelandet, war unter Observation vom Flughafen ins Hotel Palmeraie gefahren, wo sie, zu aller Erstaunen, erst ein Zimmer reserviert und dann dort Umschläge deponiert hatte, um anschließend zu Abdel Rahman zu gehen. Als sie schließlich über ein Richtmikrofon erfuhren, dass die beiden geraubten Diamanten tatsächlich in der Wohnung von Abdel Rahman waren, hatte er bereits innerlich triumphiert. Schließlich war auch noch Francis Roundell aufgetaucht. Bis dahin lief alles perfekt. Nichts hatte mehr schief gehen können. Die gesamte Anlage war im Rahmen der fingierten Feuerwehrübung abgesperrt worden. Die Hälfte der Feuerwehrleute waren Beamte des Antiterror-Sondereinsatzkommandos, Spezialisten, gut getarnt mit Feuerwehruniformen. Scharfschützen waren positioniert und die benachbarten Wohnungen klammheimlich geräumt worden. Von Anfang an hatte der Befehl gelautet, Abdel Rahman durch einen gezielten Todesschuss zu liquidieren. Roundell sollte festgenommen werden. Und die Frauen auch. Der Befehl zum Zugriff war schließlich erfolgt, als Abdel Rahman angefangen hatte, mit der Pistole wild herumzufuchteln. Der Scharfschütze hatte ihn gleich mit dem ersten Schuss ausgeschaltet. Der zweite Schuss war in das Aquarium gegangen. Drüben, in der anderen von den Terroristen angemieteten Wohnung, war ebenfalls alles gut verlaufen. Zwei Terroristen, wahrscheinlich Handlanger von Abdel Rahman, einer aus Marokko und der andere aus Tunesien, hatten versucht, zu ihren Waffen zu greifen. Die Männer der Sondereinheit hatten aus Notwehr schießen müssen.
Und dann ging alles schief. Offensichtlich hatte Abdel Rahman diesen Roundell erschossen. Bewusst oder unbewusst spielte dabei keine Rolle. Roundell war tot. Bedauerlich, aber nicht wirklich tragisch. Wieder ein Zeuge, der keine Fragen mehr aufkommen ließ. Aber was danach geschehen war, würde noch viel interne Probleme und sicherlich auch diplomatische Querelen nach sich ziehen. Warum nur hatten die beiden Beamten vom Sondereinsatzkommando die beiden Blendgranaten gleichzeitig in das Fenster in der ersten Etage geworfen? Die erste Granate hatte den Fensterladen samt Fenster weggesprengt. Und daher flog die zweite Granate durchs offene Fenster direkt in das Bett dieser Frau. Wer konnte ahnen, dass die Frau gefesselt und bewegungslos in diesem Bett lag? Niemand konnte das wissen, und es war daher auch niemandem anzulasten, dass die gefesselte Frau dabei getötet wurde. Wie es aber der anderen Frau hatte gelingen können, aus dem Fenster zu springen und im Schutz der Dunkelheit zu fliehen, war ihm persönlich schleierhaft. Ebenso wie es nicht zu erklären war, wie sie bei ihrer Flucht noch in den Besitz der beiden gestohlenen Diamanten gelangen konnte. Fest stand nur, dass die beiden Diamanten weg waren. Und diese Frau auch. Jetzt hieß es, sie so schnell wie möglich zu finden. Tot oder lebendig. Am besten tot. Ihm persönlich waren diese blöden Edelsteine völlig gleichgültig. Das war ein Problem der europäischen Kollegen und das von Interpol. Ihn interessierte nur die terroristische Seite des Ganzen, die die innere Sicherheit Marokkos tangieren konnte. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war eine Frau, die als Zeugin vor europäischen Gerichten aussagte. Dann würde wahrscheinlich die Sache mit dem italienischen Kommissar, der als Targi verkleidet zwei Menschen getötet hatte, wieder aufgerollt werden. Und dann kämen schnell Fragen auf, wie dieser Carlo Frattini ums Leben gekommen war. Peinliche Fragen würden es werden. Vermutlich würde dann auch ihre seit Jahren in Spanien heimlich durchgeführte Operation, die dem Bruder von Abdel Rahman galt, auffliegen. Und damit ihr Informant. Hier ging es also um übergeordnete staatliche Interessen. Nein, plappernde Zeugen konnte man da nicht gebrauchen. Alle waren sie tot: Abdel Rahman, Francis Roundell, Commissario Frattini und diese Frau im Bett.