Nur die andere lebte noch und war auf der Flucht. Ob es nun Marie-Claire de Vries war oder Cathrine de Vries, war ihm egal. Diese verworrene Sache mit den Zwillingsschwestern, mit der ihn die Kollegen von Interpol dauernd genervt und damit ständig seine Einsatzpläne durcheinander gebracht hatten, interessierte ihn nicht. Sein Befehl aus Rabat lautete, das Problem zu lösen. Für immer. Dem stand jetzt nur noch diese flüchtige Frau im Wege. Eine europäische Frau mit auffällig langen blonden Haaren. Es würde nicht zu schwierig werden, eine solche Europäerin in Marokko zu finden. Viele Möglichkeiten hatte sie nicht, aus Marrakesch rauszukommen. Der Flughafen wurde bereits überwacht. Die wenigen Ausfallstraßen nach Fes und Meknes, Casablanca und Agadir waren abgesperrt. In den Süden, Richtung Ouarzazate, würde sie kaum fliehen. Der Tizi N’Tichka als einziger von Marrakesch aus mit dem Auto erreichbare Pass war in dieser Jahreszeit kaum zu überqueren. Oben in den Bergen des Hohen Atlas hatte es geschneit. Ohne Allradfahrzeug kam da momentan niemand rüber. Er hatte keine Zweifeclass="underline" Seine Leute würden diese einzige noch lebende Zeugin aufspüren. Wahrscheinlich würde sie dann bei der Vernehmung aus dem Fenster in den Tod springen, um einer Verurteilung zu lebenslanger Haft in einem stinkenden marokkanischen Gefängnis irgendwo in der Wüste zu entgehen. Verzweifelte Täter taten so etwas manchmal …
21. Kapitel
Die mächtigen Lehmmauern waren baufällig, und das riesige Tor mit seinen verrosteten Eisenbeschlägen verhieß nichts Gutes. Doch hinter dem wehrhaften Gemäuer lag das Paradies: Haushoher Oleander thronte über dem schmalen Weg; Bougainvillen wallten in prächtigem Rot und Weiß und Lila von den Dächern und Mauern herab; die Orangenbäume trugen schwer unter der Last der Früchte, deren Duft sich mit dem der Zitronenbäumchen einte; Bananenstauden mit überdimensional großen Fruchtblüten säumten schmale Wasserkanäle, die sich zwischen den vielen Springbrunnen durch das üppige Grün schlängelten.
Ein eigentümliches Geräusch erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ihr Blick ging hoch zu den eckigen Türmen, die über dem Innenhof des alten Anwesens thronten. Filigran in die Zinnen des Turms eingeflochten konnte sie dort oben ein riesiges Nest ausmachen, in dem zwei Schwarzstörche stolz mit nach hinten gebeugtem Kopf ihre Lebenslust in den blauen marokkanischen Himmel klapperten. Um den nächstliegenden Turm kreisten zwei Falken. Die mit dunkelbraunen Flecken akzentuierten Federkleider glänzten im späten Abendlicht. Ihre krummen Schnäbel öffneten sich zu herzergreifendbegeisterten Schreien nach Freiheit, die an den alten Gemäuern widerhallten und die prachtvollen gelben, roten und schwarzen Vögel in den Bambusbüschen nahe des Swimmingpools überhaupt nicht zu ängstigen schienen. Das Paradies! Ja, das musste es sein. Ihr Blick wanderte von den gelb-braunen Wasserschildkröten des Teichs zu einem mächtigen Pfau, der sich ihr aufgeplustert und arrogant in den Weg stellte. Sein braunes Krönchen auf dem Kopf wippte mit jedem Schritt, den er ihr näher kam. Der im abendlichen Streiflicht metallisch schimmernde Hals und Körper waren das Schönste, was sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Missmutig, mit abgehackt-vorsichtigen Tippelschritten kam er näher. Eiii … Eiii …, krähte er seiner Verärgerung in den afrikanischen Himmel und entfaltete sein prächtiges Federkleid, das sich ihr als Barriere aus Tausenden blau-grün-weißer Pfauenaugen entgegenstellte. Marie-Claire lächelte.
»Ist ja schon gut, du eitler Pfau! Ich lass dich ja in Ruhe. Pass lieber auf, dass sich die Turmfalken da oben nicht deine Babys holen.«
Glücklich lächelnd ging sie einige Schritte zurück und wählte einen anderen Pfad durch das Urwaldgrün hin zu ihrem Zimmer. Ach, wie schön das Leben doch sein konnte! Hier, in diesem Paradies wollte sie bleiben. Hier hatte der Schöpfer seine farbenfrohsten Kreaturen und betörendsten Düfte geeint, um der Welt zu zeigen, zu welchen Wundern er in der Lage war.
Ja, hier wollte sie bleiben. Für immer. Sie wollte jeden Morgen vom Geklapper der Störche geweckt werden, wollte mit dem ersten Augenblick des frühen Tages durch die Fenster hindurch die Orangen und Zitronen, die Hibiskusblüten und Bougainvillen sehen und mit dem ersten tiefen Atemzug all das in sich aufnehmen, was diese Welt an Düften offerierte. Es war ein wundervoller Tag. In einem Palast wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Nur ihr Traumprinz schien heute äußerst missmutig zu sein. Er erwartete sie bereits im Schlafgemach, dessen seidige Vorhänge sich im Wind des Deckenventilators bewegten.
Wie immer am frühen Tag, bevor die Lakaien das Frühstück unter dem Baum nahe des Sees servierten, trug er ein schlichtes, knielanges Gewand. Er verzog sein Gesicht zu einer ungehaltenen Grimasse und ergriff sie an ihren Schultern.
»Marie-Claire!«
Marie-Claire de Vries wollte ihn barsch anfahren, ihn zurechtweisen, weil er ihre sanften Gedanken unterbrochen hatte, aber ihre Stimme versagte. Sie schaute ihn entsetzt an. Sanjays Augen funkelten bösartig. Verärgert versuchte sie, seine Hände von ihren Schultern abzuschütteln. Aber er verstärkte seinen Griff und schüttelte sie unwirsch.
»Jetzt wach doch endlich auf. Wir sind gleich da!«
Panisch richtete sich Marie-Claire auf. Angstgefühle überlagerten plötzlich ihre Bilder von Pfauen, Falken und farbenprächtigen Blumen. Verwirrt flog ihr Blick nach rechts, hin zu dem Fenster, durch das sie morgens die Schönheit des Tages in ihr Leben eindringen ließ, aber das Fenster war verschlossen, war mit grauem Plastik verdunkelt. Die Sonne über ihr war ungewöhnlich grell. Sie blinzelte hinein. Neonlicht blendete sie. Das Zwitschern der Vögel draußen im Patio des Palastes war einem penetranten Dröhnen gewichen. Sanjay sprach jetzt wieder sehr sanft und liebevoll mit ihr.
Seine Augen zeigten wieder das, was auch sie ihm mit ihren Augen sagte. Der Druck seiner Hände auf ihren Schultern ließ nach. Zärtlich streichelte er ihr über die Wange.
»Wach auf, Marie-Claire! Du hast geträumt! Wir werden gleich landen.«
Marie-Claire wollte nicht aufwachen. Störrisch presste sie die Augenlider zusammen wie ein Kind, das die erschreckende Wahrheit nicht sehen wollte. Erst jetzt spürte sie die Vibrationen um sie herum, registrierte das Rauschen der Klimaanlage und den Gurt um ihren Körper. Ihre Finger tasteten ihr näheres Umfeld ab. Was sie fühlte, war weiches, geschmeidiges Leder. Sie saß in einem Flugzeug! In einem kleinen mit sehr komfortablen Sitzen. In solch einem Flugzeug hatte sie noch nie gesessen. Sie wollte, dass es nicht stimmte, verwehrte sich der Realität. Wieso saß sie in einem Flugzeug? Sie wollte zurück, in den Palast – zu den Pfauen. Und zu den Falken. Zurück ins Paradies.
Aber der Traum war zu Ende. Es war der schönste Traum ihres Lebens gewesen. Aber es war ein Albtraum, weil sie wusste, dass es dieses Paradies, in dem sie sich im Schlaf wie eine Fee bewegt hatte, tatsächlich gab, sie aber nie wieder in ihrem Leben dorthin zurückkehren würde. Ja, sie war schon einmal dort gewesen, in dem ehemaligen Emirpalast in der Oasenstadt Taroudant, weit im Süden Marokkos, jenseits der Gipfel des Hohen Atlas. Vor vielen Jahren. Es gab diesen Palast, das jetzige Hotel Palais Salam! Salam – Friede! Sie suchte den Frieden, den inneren Frieden. Deshalb hatte sie nach ihrer Flucht aus der Wohnung von Abdel Rahman nur einen einzigen Gedanken gehabt: Sie wollte nach Taroudant ins Hotel Palais Salam. Es blieb ein Traum, der sich schnell zu einem Albtraum wandelte. Denn schon an der ersten Straßenkreuzung, der sie sich nach ihrer Flucht genähert hatte, standen Polizeiautos. Eine Straßensperre. Sie suchten nach ihr! Der Traum, mit einem Bus oder einem Taxi von Marrakesch nach Ouarzazate und von dort den weiten Weg nach Taroudannt ins Palais Salam zu nehmen, hatte sich schnell zerschlagen. Der Albtraum, der seinen grausamen Höhepunkt mit dem Tod von Cathrine gefunden hatte, war noch nicht zu Ende gewesen. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, was nach dem Sprung aus dem Fenster geschehen war. Da waren nur noch Fragmente in ihrer Erinnerung: die kalte Nacht, das Entsetzen, das ihr den Atem zum Rennen durch die Gärten und über die Geröllebenen zwischen Palmeraie und Marrakesch genommen hatte. Viele Kilometer war sie durch die nordafrikanische Nacht gehetzt, war gestürzt, war vor den Männern mit den Gewehren und vor der Wahrheit geflohen. Die Wahrheit war, dass Cathrine nicht mehr lebte. Realität war, dass sie nur wenig Geld, zwei Pässe und nur die Kleider, die sie am Körper trug, besaß. Und zwei unvorstellbar wertvolle Edelsteine, die ihr nicht gehörten. Aber eins war auch sicher: Wer immer sie gewesen waren, diese Männer in Abdel Rahmans Wohnung, sie würden sie suchen! Wollten sie sie töten? Warum? Wo war sie jetzt? Es fiel ihr schwer, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Vorsichtig nahm sie ihre Hände von den Augen weg, wandte sich nach links und blinzelte die Realität an. Sanjay saß neben ihr. Ja, er war es. Fragend schaute er sie an.