»Wenn mich nicht alles täuscht, Marie-Claire, gibt es da eine geheimnisvolle Verbindung zwischen den beiden spektakulären Diebstählen des Kleinen und des Großen Sancy und jenem Diamanten, der 1981 über uns in Genf zur Versteigerung gelangen sollte – also eine Verbindung zu dem Florentiner. Diese drei Diamanten waren vor mehr als fünfhundert Jahren im Besitz eines Mannes: Karls des Kühnen. Er hatte diese Edelsteine von seinem Vater, Philipp dem Guten, geerbt. Er nannte diese Diamanten damals die ›drei Brüder‹, was erahnen lässt, dass es einen mystischen Zusammenhang zwischen diesen Edelsteinen gab. Auch andere Parallelen sind höchst ungewöhnlich: Sowohl Philipp der Gute als auch sein Sohn Karl der Kühne waren Souveräne, also die führenden Köpfe des geheimnisumwitterten Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies. Es wurde durch alle Jahrhunderte hindurch immer wieder über eine Verbindung dieses Ordens zum sagenumwobenen Schatz der Templer gemunkelt. Außerdem gibt es da noch eine höchst mysteriöse indische Legende. Demnach sollen drei ungewöhnlich große Diamanten vor langer Zeit als Augen eine riesige Götterstatue geziert haben. Die Legende besagt, dass diese Diamanten als die ›göttlichen drei Brüder‹ über Macht, Erleuchtung und ewiges Leben wachen!«
Marie-Claire de Vries war sich im Klaren darüber, wie verdutzt sie ihren Sicherheitschef anschaute. Und sie war auch mehr als überrascht. Francis war bei all seinem Charme und seiner Neigung zu weit ausschweifenden verbalen Exkursen dafür bekannt, dass er extrem analytisch und emotionslos denken und handeln konnte. Er war ein kühler Kopf, wenn es um seine Aufgabe als Sicherheitschef des weltberühmten Auktionshauses ging, zu dessen Klientel der internationale Hochadel ebenso gehörte wie Multimillionäre und vermögende Neureiche. Francis Roundell konnte sich Gefühle in seinem Job nicht erlauben. Wenn es irgendwo bei Christie’s ein Problem gab, wenn die Herkunft oder Echtheit wertvoller Gemälde, Schmuckstücke oder anderer Kunstgegenstände nicht zweifelsfrei waren, wenn die Seriosität oder die Bonität von Kunden überprüft werden mussten oder gar der Verdacht im Raum stand, dass auch nur ein Hauch von Illegalität in Verbindung mit einem Kauf oder Verkauf im Raum stand, waren Francis und seine Leute gefragt. Für sicherheitstechnische Aspekte der Mitarbeiter des Auktionshauses war er ebenfalls zuständig. Die Sicherheitsabteilung operierte extrem verschwiegen, war direkt dem Vorstand des Auktionshauses unterstellt und nur einigen wenigen ausgewählten Personen auskunftsberechtigt. Was die Sicherheitsabteilung tat, war ebensosehr strenger Geheimhaltung unterworfen wie die Frage, wie sie es taten. Eigentlich, dachte Marie-Claire in diesem Moment, ist die Sicherheitsabteilung wie ein interner Geheimdienst. Niemand wusste, was da in der King’s Street im Londoner Stadtteil St. James vor sich ging. Vielmehr kursierte das Gerücht, es gebe außerhalb der Zentrale noch versteckte Büros des Sicherheitsdienstes, so genannte Secret Offices, in denen höchst diffizile Angelegenheiten des Auktionshauses mit größter Diskretion erledigt würden. Marie-Claire schaute Francis Roundell voller Hochachtung an. Ja, er war ein Perfektionist, wenn es sein musste berechnend und völlig emotionslos. Wenn ein solcher Mann plötzlich anfing, von Legenden und Mythen zu sprechen, musste das einen Grund haben. Sie war sich sicher, dass Francis nicht eigens aus London zu ihr nach Wien gekommen war, um ihr Geschichten aus Tausendundeiner Nacht zu erzählen. Die Gedanken an ihren Urlaub waren verflogen, und ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem, was Francis erzählte.
»Francis, Sie nehmen mir das bitte nicht übel, wenn ich sage, dass mich solche Märchengeschichten aus Ihrem Mund höchst nachdenklich machen? Was wollen Sie mir wirklich sagen? Was haben diese Legende von der Götterstatue, die Mär von dem Schatz der Templer, die Ritter vom Goldenen Vlies und diese beiden Raubüberfälle mit dem Auktionshaus Christie’s zu tun?«
Der Sicherheitschef wühlte in den mitgebrachten Dokumenten, vertiefte sich für Momente in die Kopie eines Dokuments mit Schriftzeichen, die Marie-Claire de Vries nicht einzuordnen wusste. Dann holte er tief Luft.
»Marie-Claire, mir ist natürlich bewusst, dass sich all das höchst wirr anhört, quasi wie eine Weltverschwörungstherorie. Ja, das weiß ich! Alles in allem sind das tatsächlich höchst verwunderliche Zusammenhänge! Unser Auktionshaus ist es ja gewohnt, dass sich bei wertvollen Edelsteinen und Schmuckstücken Mythen und Fakten zu kaum mehr verifizierbaren Geschichten verquicken. Aber diese Angelegenheit hier ist außergewöhnlich! Wie auch immer: Diese Männer, die bei uns in London vorstellig wurden, leben offensichtlich im Bewusstsein, dass damals in Genf der Florentiner zur Versteigerung gelangen sollte. Sie interessieren sich für diesen Diamanten. Aus welchen Gründen auch immer! Vielleicht gibt es ja sogar eine Verbindung zwischen diesen Männern und den Tätern von Florenz und Bayern. Überlegen Sie einmal, Marie-Claire. Innerhalb weniger Tage dreht sich auf einmal alles um drei der berühmtesten Diamanten des europäischen Abendlandes: den Großen Sancy, den Kleinen Sancy – und der Florentiner. Diamanten, um die sich unzählige Mythen und Legenden ranken. Der Florentiner ist seit langer Zeit nicht mehr gesehen worden! Genau gesagt, seit zirka 1920! Plötzlich zeigen höchst suspekte Männer Interesse an dem weltberühmten Edelstein und einer Versteigerung, die mehr als zwanzig Jahre zurückliegt. Kurz darauf verschwinden zwei weitere berühmte Diamanten, sie werden geraubt. Solche Zufälle, Marie-Claire, gibt es nicht! Und meine Einschätzung wird vom Christie’s Board of Directors in London geteilt. Wir wollen wissen, was da los ist.«
Erneut zog Francis Roundell ein mehrseitiges Dokument aus seinem Aktenkoffer hervor und überflog die Seiten.
»Einer der Männer, die vor einigen Monaten in London Interesse am Florentiner zeigten, war ein Österreicher namens Gregor von Freysing aus Wien. Ein Privatsammler, wie er behauptete. Der andere war ein Araber namens Jilani Resaigni. Er gab vor, für eine arabische Organisation zur Rückführung entwendeter arabischer Kulturgüter zu arbeiten. Und nun, Marie-Claire, kommt die Sensation! Laut der Aussage des Freiherrn von Hohenstein waren alle Täter bei dem Überfall auf ihn und seine Frau Araber! Laut von Hohenstein faselte der Anführer irgendetwas davon, dass der Stein nicht ins Abendland gehöre. In Florenz wiederum wurde einer der Täter festgenommen. Es war ein zwölfjähriger Junge! Ein Araber! Das alles ist kein Zufall, Marie-Claire! Meine Intuition sagt mir, dass es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Männern und den spektakulären Diebstählen im Palazzo Pitti und in Bayern gibt – und damit auch eine Verbindung zum Florentiner. Irgendwann in nächster Zeit, das ahne ich, wird etwas mit diesem Florentiner-Diamanten auf uns zukommen. Wenn dieser Diamant auf dem Markt auftauchen würde, wäre das eine Sensation. Und es wäre ein unvergleichlicher ideeller wie auch finanzieller Erfolg für Christie’s, wenn wir es wären, die diesen Stein versteigern könnten. Sein materieller Wert lässt sich auf nahezu acht Millionen Euro schätzen. Aber sein ideeller Wert als ein von Legenden umrankter Edelstein, der über Jahrhunderte europäischen Königen und Kaisern gehörte, macht ihn unschätzbar und lässt fantastische Dimensionen bei einer eventuellen Versteigerung erahnen. Es ist immer gut zu wissen, Marie-Claire, dass bereits potenzielle Käufer existieren!«
Marie-Claire de Vries bestellte sich bei dem nun merklich aufmerksameren, aber nicht gerade sonderlich freundlichen Kellner einen Cappuccino. Es war bereits drei Uhr. Sie war müde und nach dem Urlaub von all diesen Informationen und Thesen überfordert. Francis hatte ihr ein umfangreiches Dossier übergeben, und sie hatte die Unterlagen kurz überflogen. Diese Basisinformationen zeigten ihr, dass der Auftrag außergewöhnlich war. Trotz ihrer Müdigkeit faszinierte sie diese höchst mysteriöse Angelegenheit maßlos.