Выбрать главу

»Gleich! Warte …«, flüsterte sie und schloss die Augen wieder, versuchte, sich zu erinnern. Sie brauchte die Erinnerung, um die Gegenwart zu verstehen. Die atemlose Flucht vom Hotel Palmeraie nach Marrakesch hatte ihr alle Kraft geraubt. Sie hatte nicht nachdenken können. Zu sehr war sie darauf konzentriert gewesen, in der stockfinsteren Nacht nicht in einen Abgrund zu stürzen oder zu nahe an eine Straße zu gelangen. Straßen musste sie meiden, ebenso wie Flughäfen und Menschen. Sie musste dahin fliehen, wo viele, sehr viele Menschen waren. Anonymität war der beste Schutzschild. Aber sie musste auch unauffällig sein. Mit ihren langen, blonden Haaren fiel sie überall auf. Die Haare würden sie verraten!

Eine Glasscherbe, an der sie sich beim Hinfallen die Hand aufgeschnitten hatte, brachte die rettende Lösung. Es hatte sehr wehgetan, als sie sich die Haare mit der Glasscherbe abgeschnitten hatte. Es hatte nicht nur körperlich wehgetan. Ihre Haare gehörten zu ihrem Leben, so wie Cathrine dazugehörte – dazugehört hatte. Schon als Kind hatte sie die Haare lang getragen. Mit jeder schmerzhaft mit der Glasscherbe abrasierten Strähne, die auf die von der Nacht umhüllte marokkanische Erde fiel, war ihr bewusster geworden, in welch aussichtsloser Situation sie steckte. Alles war so verworren, so grausam irreal, dass sie auf ihrer Flucht durch die Nacht mehrfach den Gedanken gehabt hatte, sterben zu wollen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie diese Erlebnisse jemals würde verkraften können. Wer würde ihr glauben? Wer konnte ihr helfen? Wem durfte sie noch glauben? Wieder öffnete sie vorsichtig die Augen. Sanjay war nicht weg. Er saß schweigend neben ihr, blickte sie abwartend an. Erst jetzt registrierte sie ihre eigene Kleidung. Wo waren die Jeans, die Bluse? Sie trug einen Sari aus feinstem Tuch, durchwirkt mit silbernen und goldenen Fäden.

»Wohin fliegen wir?«

»Nach Kairo. Und von dort weiter nach Indien.«

»Zu dir nach Hause?«

»Ja.«

»Wer bin ich? Warum trage ich diese indischen Kleider?«

»Du bist nicht mehr Marie-Claire de Vries. Ich habe dir einen indischen Pass, eine neue Identität besorgt. Es ist der Pass meiner Schwester. Sie lebt als Wirtschaftsattaché in London. Sie hat es mir zuliebe getan. Du siehst ihr mit den kurzen Haaren und in diesem Sari verblüffend ähnlich. Niemand wird dich mit diesem Diplomatenpass aufhalten. Die Beamten am Flughafen in Marrakesch haben dich für meine Frau gehalten. Du hast jetzt ein Leben und drei Pässe. Wer du in Zukunft sein willst, kannst du später entscheiden.«

»Ich heiße jetzt Kasliwal?«

»Ja.«

»Habe ich auch einen Vornamen?«

»Sogar zwei: Akuti Asha.«

»Was bedeutet das?«

Sanjay lächelte und schwieg für einen Moment.

»Akuti heißt Prinzessin. Und Asha bedeutet Hoffnung. Du bist also, wie meine Schwester es auch ist, eine Prinzessin der Hoffnung.«

»Ich bin jetzt also eine Prinzessin aus dem Morgenland? Eine Mohrin?«

»Ja.«

Marie-Claire schloss wieder die Augen. Das beruhigende Dröhnen des Flugzeugs durchströmte sie. Aber die Erinnerung kam wieder. Die Bilder der Flucht: Sie war hässlich gewesen, mit ihren zerfransten, kurzen, wie von Mäusen angeknabberten Haaren. Zum ersten Mal hatte sie das vor dem kleinen Laden einer Frau am Stadtrand von Marrakesch in einem Spiegel gesehen, der an der Mauer des Krämerladens hing. Sie hatte geweint, so hässlich sah sie aus. Und so alt und zerschunden, mit tiefen Ringen unter den Augen. Für ein paar Dirhams hatte sie bei der Frau Henna gekauft. Und eine Flasche Sidi Harazen, Mineralwasser, mit der sie sich hinter einem Busch die Haare rötlich-braun gefärbt hatte. Dann war sie beim Bab Agnaou durch die Stadtmauer in die Souks von Marrakesch geschlichen. Mitternacht war es gewesen. Einige der winzigen Läden hatten noch geöffnet. So konnte sie für wenig Geld einige gebrauchte, europäische Kleidungsstücke kaufen. Wieder öffnete sie die Augen. Sanjay schien darauf gewartet zu haben. Sie mochte das Gefühl, neben ihm zu sitzen. Der Gedanke, dass sie auf dem Weg nach Indien waren, beruhigte sie.

»Erzähl mir, wie ich hier in dieses Flugzeug gekommen bin. Ich mag mich nicht erinnern.«

»Du hast mich angerufen, hast mir erzählt, dass Cathrine tot ist und dass du in einem miesen Drecksloch von Zimmer irgendwo in den Souks von Marrakesch festsitzt und nicht mehr leben willst.«

»Und du bist dann einfach gekommen? Ist das dein Flugzeug? Warum tust du das?«

Marie-Claires Fragen einten sich mit Hilfe seiner Antworten zu schemenhaften Erinnerungen. Da war der marokkanische Greis mit den gutmütigen Augen gewesen, der sie mit wenigen Worten aus ihrer Verzweiflung herausgerissen hatte. Ja, sie war verzweifelt gewesen! Wo sollte sie im nächtlichen Marrakesch hin? In eines der Touristenhotels konnte sie nicht. Wer weiß, ob man sie dort nicht bereits suchte. Sie hatte den alten Mann, der offensichtlich auch in seinem Laden, der kaum mehr als ein Bretterverschlag war, schlief und wohnte, gefragt, ob er nicht wisse, wo sie ein einfaches Zimmer bekommen könne. Für wenig Geld. Er hatte es gewusst. Es war kein einfaches Zimmer, es war ein Rattenloch. Ohne Heizung, ohne Wasser, die Wände verschimmelt und das Bett so grauenhaft schmutzig, dass sie sich auf den Boden gelegt und sich mit einem Teppich zugedeckt hatte. Kurz vor dem Einschlafen war ihr erneut der Gedanke gekommen, dass sie nicht mehr leben wollte. Dann war sie erschöpft eingeschlafen.

Den gleichen Gedanken hatte sie am nächsten Morgen wieder gehabt, durchgefroren, malträtiert von schmerzhaften Blessuren am ganzen Körper – und ohne Hoffnung. Ihre Hoffnung war in der Nacht gestorben. Dann hatte sie an der Wand in der Kälte des Morgens die mit Pflaster befestigte Seite aus einem Magazin gesehen, auf der eine sehr freizügig gekleidete europäische Frau für Schmuck warb. Mit ihren verweinten Augen sah sie das Collier, sah die funkelnden Edelsteine, erinnerte sich an die beiden Sancys in ihrer Tasche – und an den Florentiner. Sein Fluch hatte sie fest im Griff. Es gab nur einen Menschen, der diesen Fluch beenden konnte: Sanjay! In ihm manifestierten sich an diesem kalten Morgen ohne Sonne, ohne Essen, aber mit viel Angst ihre letzten Hoffnungen. Sie rief ihn nicht von ihrem Handy aus an. Es wurde wahrscheinlich längst abgehört. Das öffentliche Münztelefon, das sie benutzte, ließ ihren Mut nach einer halben Stunde vergeblichen Wählens schon schwinden, als sie ihn tatsächlich erreichte. Viel hatte sie ihm nicht erklären können, weil sie ununterbrochen geschluchzt und nur wenig Geld hatte. Aber Sanjay hatte auch nichts wissen wollen. »Ich hole dich da raus«, hatte er gesagt. Mehr nicht.

Alles, was danach geschehen war, erzählte ihr Sanjay nun – auf dem Flug nach Kairo. Von dort, er hatte es gesagt, aber sie wusste noch nicht, was das bedeutete, würden sie nach Indien fliegen. Mehr wusste sie derzeit nicht und wollte sie auch nicht wissen. Denn ihre Gedanken waren wieder bei Cathrine. Ihr Tod begleitete sie auf diesem Flug in eine Zukunft, die vom Fluch des Florentiners überschattet sein würde.