Das Flugzeug begann den Landeanflug auf Kairo. Sanjay hatte ihr gesagt, dass sie den Learjet dort auftanken mussten, bevor sie weiter gen Indien fliegen konnten. Sie blinzelte aus dem Augenwinkel heraus zu ihm hinüber. Er saß entspannt in dem breiten Ledersessel und hatte die Augen geschlossen. Aber er war wach. Auch sie schloss ihre Augen und flüsterte: »Ich habe den Großen und den Kleinen Sancy!«
»Und ich habe den Florentiner!«
»Ich weiß! Das heißt, ich habe es vermutet. Ich ahnte es, nachdem ich das Manuskript dieses Buches gelesen habe. Und dann das Dossier.«
»Meine Familie hat den Florentiner von einem jüdischen Schmuckhändler gekauft, der nach Amerika ausgewandert ist.«
»Von Ostier?«
»Ja! Der Juwelier, der ihn vom letzten österreichischen Kaiser als Sicherheit für eine Darlehenssumme von 1,2 Millionen Schweizer Franken bekommen hatte, verkaufte den Stein nach dem Tod von Kaiser Karl I. an Ostier. Er wollte ihn in viele kleine Steine zerstückeln, aber Marianne Ostier hat das verhindert. Sie war eine begnadete Schmuckdesignerin. Für sie wäre es eine ruchlose Tat gewesen, einen solch wunderschönen Stein zu zerteilen. Es gab eine Skizze von ihr, ihn in zwei Teile zu schneiden.«
»Jene Skizze, die dem Manuskript von Alphonse de Sondheimer beigefügt war?«
»Ja! Aber Marianne Ostier hat es nicht übers Herz gebracht. Mein Vater hat davon erfahren. Und er hat den Florentiner zurückgekauft. Für sehr viel Geld. Auch mein Vater wusste, dass dieser Diamant nach Indien gehört. Er hat ein Vermögen dafür bezahlt!«
Marie-Claire de Vries atmete tief durch. Ihr Herz pochte wild. Die Ehrlichkeit von Sanjay erschütterte sie, weil sie plötzlich erkannte, dass sie ihm Unrecht getan hatte mit all ihren Verdächtigungen.
»Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«
»Du hast mich lange nicht gefragt. Als du es dann tatest, wusste ich von den unheilvollen Entwicklungen, die sich da abzeichneten. Ich hätte es dir später freiwillig erzählt. Aber dann bist du nach Marrakesch geflogen. Du hast an mir gezweifelt. Richtig?«
»Ja! Ich habe mich in den letzten Wochen in einer Welt aus Halbwahrheiten und Lügen bewegt. Nichts war so, wie es sich darstellte. Ich hasse diese Welt der Lügen, der Gier und des Neids! Ich kenne sie aus meinem Elternhaus. Und ich habe immer, schon als Kind, versucht, eine Welt zu finden, ein Leben zu leben, in dem andere Normen und Werte gelten. Der Weg zu der Erkenntnis, dass es diese Welt nicht gibt, war ein schmerzhafter. Verzeih mir bitte, dass ich dir misstraut habe. Kannst du das?«
»Ja.«
»Wolltest du den Florentiner 1981 auf einer Auktion bei Christie’s verkaufen?«
»Nein. Es war nicht der Florentiner, der damals auftauchte! Es war die Kopie, die im 18. Jahrhundert in der Schatzkammer in Wien lag. Ich weiß, wer sie eurem Auktionshaus angeboten hat. Diese Kopien erfreuen das Herz eitler Menschen, die nicht das Geld haben, sich Originale zu kaufen. Mehr Schein als Sein, so sagt man doch in Europa, nicht wahr?«
»Wieso bist du gerade jetzt nach Europa gekommen?«
»Ich wollte die beiden Sancys kaufen. Wir waren schon lange in Verhandlungen mit den Besitzern.«
»Wir?«
»Ja, wir! Mein Bruder Pappu hatte diese Idee. Aber er hat mich hintergangen.«
Marie-Claire zuckte zusammen. Abrupt richtete sie sich in dem Sitz auf und blickte Sanjay fragend an. Er antwortete mit geschlossenen Augen, ohne auf ihre Frage zu warten.
»Pappu ist ein sehr gieriger Mensch. Leider! Er wusste von der Statue der Göttin, wusste von dem Schatz. Er hat irgendwann Francis Roundell kennen gelernt. Damit begann das Unheil. Der Fluch des Florentiners zog ihn und die anderen Männer ins Verderben. Dieser Francis Roundell war noch vor wenigen Tagen bei Pappu in Jaipur. Ein Vertrauter in unserer Familie hat es mir erzählt. Roundell war der Mann, den Pappu auserkoren hatte, mich zu hintergehen. Es ist ihm misslungen, aber er hat viel Leid über unbeteiligte Menschen gebracht. Auch über dich. Und über mich. Wenn nicht in diesem Leben, so dann im späteren: Pappu wird dafür büßen. Ich bin traurig, dass ich einen Bruder verloren habe.«
»Und ich bin traurig, weil ich eine Schwester verloren habe.«
»Du siehst, selbst im Leid scheinen wir zusammenzugehören. Was wirst du jetzt mit den beiden Sancys tun?«
»Was sollte ich deiner Meinung nach damit tun?«
»Du kannst sie den europäischen Besitzern zurückgeben. Man wird dich rehabilitieren, dich loben, belohnen …«
»Du hattest mir am Ufer des Sees in Grandson so etwas Schönes gesagt über das Licht und die Schönheit und das Sein. Wie sagt ihr in Indien?«
»Die völlige Abwesenheit von Licht ist Finsternis – nichts! Das höchste Licht ist das Eine – das Eine ist aber zugleich das erste Schöne – Lichthaftigkeit ist Schönheit. Je höher etwas in der Seinsordnung steht, je lichthafter ist es, desto schöner ist es auch! All das eint sich in Diamanten.«
»Anstatt sie den europäischen Besitzern zurückzugeben, könnte ich die Sancys ja auch den ursprünglichen Eigentümern zurückgeben …«
Sanjay Kasliwal schwieg lange. Sie ahnte, wusste, was er sagen würde.
»Du weißt, was ich denke: Sie gehören dem indischen Volk. Die Sancys stammen aus der Erde Indiens. Sie sind stets eins gewesen mit dem Florentiner – in der Vergangenheit, tief unten in der Erde. Und als Tränen Gottes waren sie eins auf der Statue. Ihr inneres Feuer sucht nach Vereinigung. Ich habe den Florentiner. Du hast die beiden Sancys. Es war wohl göttliche Vorsehung, dass es so geschieht. Jetzt ist es deine freie Entscheidung, was du mit den beiden Sancys machst. Wir könnten aber auch gemeinsam wiedervereinen, zusammenfügen, was schon immer aus einer göttliche Fügung heraus zusammengehörte: Wir beide – die beiden Sancys und der Florentiner.«
22. Kapitel
Die Männer in dem eleganten Penthousebüro der De-Beers Diamond Trading Company – kurz DTC genannt – in der Charterhouse Street Nummer 17 in London schwiegen irritiert. Dass ihr Chairman, Nicholas Frank – genannt Nicky – Oppenheimer, Präsident des weltweit größten Diamantenkonzerns, sie hin und wieder zu außerplanmäßigen Meetings aus aller Welt zusammenrief, war für die Anwesenden nicht ungewöhnlich. Der sechzigjährige Diamantenmagnat und Kricketfan war heute aber nicht persönlich anwesend. Er hatte seinen einzigen Sohn nach London geschickt. Jonathan, Chef von DeBeers Südafrika und zukünftiger Leiter von DeBeers Kanada, hatte seinen Nachfolger Noko mitgebracht. Der erste Schwarzafrikaner in leitender Position des weltgrößten Diamantenkonzerns saß neben ihm. Es war eine höchst ungewöhnliche Zusammenkunft. Denn neben Gereth Penny, Geschäftsführer der DTC London, Stuart Brown, dem Leiter der Konzernfinanzen, und David Noko war auch noch Gregory Marsh anwesend. Der Sicherheitschef der in London ansässigen DTC-Gruppe, die zwei Drittel aller weltweit im Handel befindlichen Rohdiamanten kontrollierte, war es auch, der ohne große Umschweife das Wort ergriff.
»Gentlemen, dieses Päckchen wurde uns vor einer Woche mit der öffentlichen Post zugestellt. Ich betone, mit der Post! Warum das so erwähnenswert ist, werden Sie gleich verstehen.«
Der dickliche Sicherheitschef löste die Kordeln des etwa dreißig mal dreißig Zentimeter großen, mit braunem Packpapier umwickelten Päckchens. Behutsam fingerte er einen schweren, in schwarzen Samt gehüllten Gegenstand heraus und legte ihn vorsichtig auf den Glastisch. Betont langsam schlug er das Samttuch auf. Ein milchig-weißer Stein, so groß wie eine kräftige Männerfaust, kam zum Vorschein. Es sah wie ein matter Quarz aus. Aber jeder der anwesenden Edelsteinexperten erkannte sofort, dass dies kein Quarz war. Drei weitere Steine lagen auf dem Samttuch.