Gregory Marsh blätterte die vielen Seiten durch, bis er die entsprechende Stelle gefunden hatte, und las weiter.
»Also … ja, hier wird es konkret: Wir beharren auf der nicht diskutablen Einschätzung, dass ein Großteil der weltbekannten Diamanten aus indischer Erde stammt – aber nicht mehr auf Indiens Erde verweilt. So prächtige Diamanten wie der Cullinan, der Koh-I-Noor, Orlow, Regent, Großmogul, Sancy – und auch der Florentiner stammen aus Indien, gehörten den Göttern Indiens – und dem indischen Volk. Ihm, dem Florentiner, gebührt übrigens unsere besondere Ehrerbietung! Viele dieser Steine wurden von gierigen europäischen Menschen entwendet. Menschen, deren Gier die mythologisch-religiöse Bedeutung dieser Edelsteine verhöhnt. Wir möchten den Pfad der göttlichen wie auch irdischen Gerechtigkeit beschreiten – und was gestohlen und geraubt wurde aus Indien wieder zurückfließen lassen. Der Terminus der Beutekunst mag, so ist es unser Wunsch und unser Wille, fortan auch auf geraubte Diamanten und andere Edelsteine aus Indien angewendet werden.
Wir möchten Sie daher höflichst bitten, spätestens bis zum 1. Juli dieses Jahres in Indien eine Stiftung zu gründen. Aufgabe dieser Stiftung soll es sein, hilfsbedürftigen Menschen auf dem indischen Kontinent ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Konkret sollen Sie Krankenhäuser bauen und unterstützen, Schulen und Kinderheime gründen etc. Details werden wir Ihnen nach Eingang ihres begeisterten Einverständnisses übermitteln. Als Firmennamen schlagen wir ›Akuti Asha & DeBeers‹ vor. Ein entsprechendes, von Experten ausgearbeitetes Konzept liegt bereits vor. Dieser zu gründenden Stiftung sollte Ihr Konzern monatlich 250000 US-Dollar zur Verfügung stellen. Die Verwaltung des Geldes und der Stiftung wird einem renommierten indischen Rechtsanwaltsbüro treuhänderisch übertragen. Das Finanzcontrolling sind wir gerne bereit, einem internationalen Kontrollgremium zu übertragen! Die gleiche oben aufgeführte Summe, also 250000 US-Dollar monatlich, wird von unserer Seite beigetragen werden.
Als Gegenleistung für Ihre Bereitschaft, dem indischen Volke Gutes zu tun, würden wir darauf verzichten, die in unserem Besitz befindlichen Edelsteine dem offiziellen Diamantenmarkt zuzuführen. Gehen Sie bitte davon aus, dass wir – gänzlich legal – Diamanten, Brillanten, Saphire und andere Edelsteine in selbst für Sie unvorstellbaren Mengen besitzen. Einer Förderung bedarf es nicht mehr.
Sollten Sie aus uns nicht nachvollziehbaren Gründen unserem Vorschlag nicht sonderlich viel Sympathie entgegenbringen wollen oder können, sehen wir uns leider gezwungen, große Mengen dieser Edelsteine auf den internationalen Markt zu werfen, um das für die o.a. karitativen Projekte erforderliche Kapital auf diesem Wege zu lukrieren. Welche fatalen Auswirkungen solche Transaktionen auf den von Ihrem Konsortium wissentlich strangulierten Diamantenmarkt und somit auf die Preisentwicklung haben könnten, mögen Sie besser beurteilen können als wir.
Lassen Sie uns zum Abschluss unseres Schreibens auf die jedem Diamanten eigene Einzigartigkeit des inneren Feuers verweisen.
Sie wissen, wie es sich mit dem Licht eines perfekt geschliffenen Diamanten verhält: Es trifft von oben in den Stein, reflektiert an den unteren und seitlichen Facetten und tritt, so es ein von Meisterhand geschliffener Diamant ist, oben wieder heraus. Dieses Licht erfreut die Sinne der Götter und der Menschen. Denn völlige Abwesenheit von Licht ist Finsternis – nichts! Das höchste Licht ist das Eine – das Eine ist aber zugleich das erste Schöne – Lichthaftigkeit ist Schönheit. Je höher etwas in der Seinsordnung steht, je lichthafter ist es, desto schöner ist es auch! All das eint sich in Diamanten!
Wir haben vereint, was nach dem Willen der Götter schon immer zusammengehörte. Materielles wie auch Immaterielles. Je höher etwas in der Seinsordnung steht, desto schöner ist es.
In diesem Sinne würden wir uns freuen, wenn Sie mit Ihrer weisen Entscheidung die Herzen der Menschen im Morgenland erfreuen und Licht in das Dunkel der mittellosen Indiens bringen würden.
Ihre positive Grundsatzentscheidung teilen Sie uns bitte in einer der nächsten beiden Wochenendausgaben der International Herald Tribune in der Anzeigenrubrik mit. Verwenden Sie bitte folgenden Text:
Die Tränen Gottes sollen
zu Tränen des Glücks werden.
Mit vorzüglicher Hochachtung
M. C. – alias Akuti Asha K. – und Gemahl«
»Ich komme mir vor wie in einer indischen Märchenstunde – aber nicht wie in einem Krisenmeeting des größten Diamantenkonzerns der Welt!«
Jonathan Oppenheimer war aufgestanden und schritt nachdenklich durch den Raum. Sein Blick ging über die Dächer Londons. Die Maisonne senkte sich bereits hinter der Stadt.
»Gregory! Was halten Sie von dieser ganzen Sache?«, sprach er den Sicherheitschef an. »Sie hatten eine Woche Zeit zu recherchieren, mit was wir es hier zu tun haben: mit Irren – oder mit einer knallharten Erpressung. Steckt da vielleicht ein anderer Konzern – unsere Konkurrenz dahinter?«
Gregory Marsh schaute verlegen in die Runde. »Weder das eine noch das andere, Chef! Ich habe alles untersuchen lassen, was es zu untersuchen gab: Diese Edelsteine sind echter, als es uns wohl lieb ist. Unsere Geologen sagen, dass sie eindeutig aus Indien kommen. Das Päckchen wurde in Gradson nahe des Lac de Neuchâtel südlich von Bern aufgegeben, aber der Karton selbst stammt zweifelsfrei aus Indien. Ebenso die Kordel und das Samttuch. Fingerabdrücke konnten keine festgestellt werden. Der Name Akuti Asha ist in Indien sehr gängig und bedeutet nichts anderes als Prinzessin der Hoffnung. Was die drei Buchstaben M.C.K. hinter diesen Vornamen bedeuten, kann ich nicht sagen. Die einzige vage – aber wirklich nur vage – Spur führt über diesen Vornamen nach Jaipur, im indischen Bundesstaat Rajasthan. Dort gibt es, wie Sie sicherlich wissen, einen Familienklan, die Kasliwal, die sich in den letzten Jahren weltweit einen Namen mit Schmuck gemacht haben. Und mit Edelsteinen.«
»Wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee? Wo gibt es da eine Verbindung zu dem Brief?«, unterbrach Jonathan Oppenheimer seinen Sicherheitschef.
»Die Schwester dieser Kasliwal-Brüder heißt Akuti Asha – und ist hier in London an der indischen Botschaft Wirtschaftsattaché. Einen Gemahl hat sie allerdings nicht. Zudem möchte ich in diesem Kontext auf die spektakulären Ereignisse Ende letzten Jahres hinweisen, als in Florenz der Palazzo Pitti in die Luft gejagt wurde. Damals wurde der Große Sancy geklaut. Bei einem deutschen Adligen haben sie den anderen, den Kleinen Sancy geraubt. In diesem Brief hier werden die Sancys und der Florentiner erwähnt. Es gibt eine seltsame Legende, dass diese drei Steine einmal zusammengehört haben – als die göttlichen Tränen oder so.«
»Absurd! Völlig absurd ist das«, unterbrach Jonathan Oppenheimer. »Hören Sie mir bloß auf, Gregory! Sie lesen zu viele Kriminalromane. Und Märchenbücher offensichtlich auch. Ich habe von diesem Edelstein-Palast der Kasliwal-Brüder in Jaipur gehört. Die leben doch selbst von der Seltenheit der Diamanten! Die sind doch nicht so verrückt und graben sich ihr eigenes Grab, indem sie den Weltmarkt für Diamanten auf den Kopf stellen. Haben Sie schon einmal einen Inder getroffen, Gregory, der keinen Profit machen will? Die Inder sind clever, die setzen eine alte Frau einen ganzen Tag lang an den Straßenrand und lassen sie ein Streichholz verkaufen, das sie für einen Cent eingekauft haben. Wenn Sie da zufällig vorbeikommen und eine Zigarette rauchen wollen, aber kein Feuer haben, verkauft die alte Frau Ihnen das Streichholz für zehn Cent. Das ist eine Profitmarge, von der wir nur träumen können! So sind die Inder. Und so sind diese Kasliwals mit Sicherheit auch. Also hören Sie auf mit dem Quatsch. Das sind Hirngespinste. Außerdem: Wenn diese Kasliwal-Brüder solche Berge von Diamanten besäßen, würden die mit Sicherheit nicht auf eine solch hirnrissige Idee kommen, Krankenhäuser zu bauen. Ich habe diesen Pappu Kasliwal einmal persönlich kennen gelernt. Der verkauft Ihnen das Nachthemd seiner Mutter, wenn er damit Geld machen kann. Also hören Sie mit Ihren Legenden auf.«