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Die Cordwainers und ihre unverhofften Gäste fanden sich in einem großen Salon zu einem späten Abendessen ein, nachdem die Verteidigung der Stadt organisiert war. Die mit blütenweißen Tüchern gedeckte Tafel bog sich fast unter den zahlreichen silbernen Schüsseln, Pfannen und Tellern. Die Cordwainers erschienen in feinster Garderobe und Byron in der Uniform eines US-Majors.

»Ich wußte nicht, daß Sie Offizier sind«, bemerkte Jacob, der sich, wie seine Freunde, in seiner einfachen Kleidung ein wenig deplaziert vorkam.

»Ich habe mit der regulären Armee gegen die Roten gekämpft und dort zum Schluß den Rang eines Majors bekleidet. Jetzt trage ich den blauen Rock, weil ich eine Kompanie Freiwilliger befehlige.«

»Gegen wen kämpfen Sie?«

»Gegen Männer wie die von Quantrill. Guerillas, Missourier, Bushwackers, wie immer man sie nennen will.«

»Ich habe nicht gewußt, daß hier die Front verläuft«, meinte Irene erstaunt.

Byron Cordwainer sah die junge Deutsche versonnen an. »Wir hatten hier schon eine Front und einen Krieg, als noch niemand im Süden daran dachte, sich von der Union loszusagen. Als Abraham Lincoln noch ein kleiner, unbekannter Rechtsanwalt bei den Hinterwäldlern war, haben wir Freistaatler in Kansas und Missouri schon blutig gegen die Versklavung der Schwarzen gekämpft.«

Die deutschen Auswanderer erfuhren, das Gegner und Befürworter der Sklaverei im Grenzgebiet zwischen Missouri und Kansas schon seit zehn Jahren verbissen gegeneinander kämpften. Erst ging es darum, ob das junge Kansas sich in seiner Verfassung zur Sklaverei bekannte oder nicht. Als diese Frage zu Gunsten der Sklavereigegner entschieden war, wollten diese ihre Auffassung auch den Sklaven haltenden Missouriern aufdrängen. Das offene Ausbrechen des Bürgerkriegs gab beiden Parteien neuen Auftrieb und ließ den blutigen Guerillakrieg nur noch heftiger werden.

Die Cordwainers äußerten sich entschieden gegen die Sklaverei. Ihre Familie war die reichste und maßgebliche in der Stadt. Sie sorgten dafür, daß sich niemand in Blue Springs niederließ, der nicht ihrer Ansicht war. Um die Stadt gegen Angriffe der Sklavereibefürworter zu verteidigen, hatte Byron Cordwainer aus ihren Bürgern die Freiwilligenkompanie rekrutiert, die jetzt das Kernstück der Stadtverteidigung bildete.

Während Byron Cordwainer, sein Bruder und sein Vater hitzige Reden für die Freiheit aller Menschen und gegen die Sklaverei führten, hielten sich die beiden Damen der Familie sehr zurück.

Abigail Cordwainer betonte zwischendurch nur immer wieder, wie froh sie sei, daß Politik eine reine Männerangelegenheit war.

Virginia Cordwainer war mehr als einsilbig. Ihr sowieso schon blasser Teint schien während des Abends noch bleicher zu werden. Sie rührte kaum etwas von den reichhaltigen und leckeren Speisen an.

Irene, die sie genau beobachtete, führte das erst auf Virginias Zustand zurück. Sie kannte das von ihrer eigenen Schwangerschaft. Aber je länger der Abend dauerte, desto mehr verfestigte sich in Irene der Eindruck, daß die Reden der Männer an Virginias Unwohlsein nicht unschuldig waren. Die schwangere Frau atmete regelrecht auf, als Avery Cordwainer die Tafel aufhob.

Es war schon spät, und bis auf Byron und Ellery Cordwainer wollten alle rasch zu Bett gehen. Die beiden Brüder wollten noch einmal die Verteidigungsstellungen kontrollieren.

Die drei Zimmer der Auswanderer lagen nebeneinander im obersten Stockwerk. Irene bemerkte, daß Virginias Schlafzimmer gleich neben ihrem lag.

Die junge Deutsche war so erschöpft von den Anstrengungen des Tages, daß ihre Augen zufielen, sobald sie Jamie in das von den Cordwainers zur Verfügung gestellte Kinderbett gelegt hatte. Einer ihrer letzten Gedanken war, daß ihr kleiner Sohn zum erstenmal in seinem jungen Leben in einem richtigen Kinderbett schlief, und dann noch in einem so prächtigen. In Oregon würde er bestimmt sein eigenes Kinderbett haben.

Irene schlief ein und träumte vom fernen Oregon, das in ihrem Traum einem Garten Eden glich.

*

Eilig und vorsichtig zugleich lenkte der junge, schmale Reiter seinen Schecken durch die Nacht. Eilig, weil die Menschen in Blue Springs auf seine Hilfe hofften, weil vielleicht ihr Leben davon abhing, daß er nach Kansas City durchkam. Vorsichtig, weil die fast stockdunkle Nacht viele Gefahren barg, die seinem Ritt ein vorzeitiges Ende setzen konnten.

Schon bei normaler Witterung mußte ein Reiter in der Dunkelheit vorsichtig sein, um zu vermeiden, daß sein Pferd über eine aus dem Boden ragende Wurzel stolperte oder in das Loch eines Hasen oder eines Fuchses trat. Die Regenbrüche der letzten Tage verschlimmerten diese Gefahren noch, indem sie den Boden aufweichten, rutschig machten, größere Baumwurzeln freilegten oder vormals sichere Pfade einfach wegschwemmten.

Deshalb ließ Gus Peterson seinen Schecken während der meisten Zeit nur im Schritt gehen. Am klügsten und sichersten wäre es gewesen, erst am nächsten Morgen aufzubrechen. Aber dann konnte es schon zu spät sein, konnte Blue Springs von Quantrill und seinen Guerillas eingekreist sein.

Wenn es stimmte, was die mit dem Treck eingetroffenen Leute erzählt hatten, war höchste Eile geboten. Bei Tagesanbruch, wenn er Quantrills Trupp hoffentlich umgangen hatte, wollte Gus sein Tier kräftig antreiben, um den Entsatz aus Kansas City möglichst schnell herbeizuholen.

Wenn das einem Mann gelingen konnte, dann Gus Peterson. Der zwanzigjährige Angestellte in der Lawrence Missouri Bank galt als einer der besten Reiter der Stadt, und sein Schecke Chief war eins der schnellsten und zugleich ausdauerndsten Tiere diesseits des Big Muddy. Das hatte Gus auf mehreren Rennen bewiesen, die ihm recht ansehnliche Preisgelder eingetragen hatten. Aber nie war es dabei um einen so hohen Preis gegangen wie in dieser wolkenverhangenen Nacht.

Mary Calder, die er bald heiraten wollte, hatte ihn mit Tränen im Gesicht angefleht, nicht zu reiten. Aber Gus hatte es tun müssen, auch für Mary. Er mußte verhindern, daß Quantrills Bande über seine Stadt herfiel und vielleicht auch über seine Braut. Allein die Vorstellung, daß Mary in die Hände der Guerillas fallen konnte, bereitete ihm fast körperliche Schmerzen.

Gus hoffte, früh genug aufgebrochen zu sein, um einen Zusammenstoß mit den Südstaatlern zu vermeiden. Falls es doch dazu kam, mußte er sich auf den alten Colt Dragoon an seiner Hüfte und auf den Karabiner in seinem Scabbard verlassen. Doch er hoffte sehr, daß es nicht dazu kam, denn Quantrills Horde pflegte in größerer Zahl aufzutreten, als er Patronen besaß.

Der einsame Reiter hob ein wenig den Kopf, als er ein Waldstück erreichte. Die mächtigen Baumkronen, die sich hoch über ihm zu einem Dach vereinigten, hielten einen Teil des Regens ab, so daß er es wagte, den verbogenen Filzhut vom Kopf zu nehmen und die kleinen Teiche, die sich auf ihm gesammelt hatten, abzuschütteln.

Er hatte den Hut gerade wieder aufgesetzt, als Geräusche an sein Ohr drangen, die ihn alarmierten. Anfangs nahm er sie kaum wahr, so laut trommelte das Heer der Regentropfen auf das Blätterdach. Aber es war keine Täuschung. Er hielt Chief still, lauschte und erkannte bald die Geräusche eines Wagens. Er mußte schon recht nahe sein und konnte jede Sekunde um die Biegung fünfzehn Yards vor ihm kommen.

War es nur ein einzelner Wagen?

Oder wurde er von Reitern begleitet, von wilden Reitern unter dem Kommando Quantrills?

Um das herauszufinden, trieb Gus seinen Schecken durch das Unterholz, bis er von dem durch den Wald führenden Weg aus nicht mehr zu sehen war.

Gus stieg ab, band Chief an den Stamm einer verkrüppelten Hemlocktanne, zog den Karabiner aus dem Scabbard und kroch durch das klatschnasse Gras zurück, bis er hinter dem breiten Stamm einer uralten Eiche Deckung fand. Nah genug, um zu erkennen, was auf dem Waldweg vor sich ging.

Da kam der Wagen, den er gehört hatte, auch schon um die Biegung. Es war ein leichter, vierrädriger Einspänner mit verständlicherweise hochgeklapptem Verdeck. Unter dem Verdeck saß nur eine Person, so dick in eine Decke eingewickelt und außerdem im Schatten des Daches sitzend, daß er sie nicht erkennen konnte.