Doch Gus glaubte zu wissen, um wen es sich handelte. Doc Hatfield, der einzige Arzt der Stadt, besaß einen Wagen gleichen Typs. Und war das plumpe Zugtier nicht Hatfields alte Schindmähre Nelly? Die Dunkelheit verhinderte, daß Gus es genau erkennen konnte.
Je näher der Wagen seinem Versteck kam, desto sicherer war sich Gus, es mit Doc Hatfield zu tun zu haben. Der Arzt war am Vormittag zu Ben Millers Farm gerufen worden, weil Ann, die kleine Tochter des Farmers, von einem schweren Fieber befallen worden war. Wenn der Doc von der Farm kam, mußte er durch diesen Wald fahren.
Gus war sich jetzt sicher, in keiner Gefahr zu schweben. Er erhob sich von dem nassen Boden, trat auf den Weg hinaus, rief laut den Namen des Arztes und winkte mit der linken Hand, während er in der anderen den Karabiner trug.
Der Fahrer des Einspänners hielt sein Gefährt neben Gus an und beugte sich vor. Das verwitterte, von einem großen, weißen Schnauzbart beherrschte Gesicht mit der schniefenden Nase, das der Bankclerk unter der Krempe eines flachkronigen schwarzen Hutes erspähte, gehörte tatsächlich dem alten Doc Hatfield, ohne den sich Gus Blue Springs gar nicht vorstellen konnte.
»Gus Peterson«, krächzte der Arzt erstaunt und wischte sich wenig erfolgreich mit dem nassen Ärmel über die triefende Nase. »Was machst du denn hier? Bei diesem Wetter schickt man doch keinen räudigen Hund vor die Tür, höchstens einen armen, alten Arzt.«
Er sprach so vertraut mit Gus wie mit fast jedem Bürger von Blue Springs. Schließlich hatte er fast alle schon im Bett gesehen und manch einen sogar auf diese Welt geholt.
»Ich bin nicht zum Vergnügen hier, Doc. Sie sollten sehr vorsichtig sein, wenn Sie weiterfahren.«
Hatfield legte den Kopf schief. »Was soll das heißen, Junge?«
»Quantrill und seine Leute sollen sich in der Gegend aufhalten. Wahrscheinlich haben sie es auf unsere Stadt abgesehen.«
Schlagartig wurde Hatfields Gesicht ernst. »Quantrill?«
Gus erzählte ihm, was sich ereignet hatte, und fragte: »Haben Sie unterwegs etwas von den verfluchten Rebellen gesehen, Doc?«
Hatfield schüttelte den Kopf. »Nicht mal einen Rockzipfel oder einen Pferdeschweif. Ich komme direkt von Millers Farm und hatte gehofft, noch bei Tageslicht zurück zu sein.« Er schaute zu seinem Pferd. »Aber die alte Nelly ist auf dem nassen Boden ausgerutscht und hat sich den Fuß verknackst. Deshalb kann ich nur im Schneckentempo weiterfahren.«
»Vielleicht sollten Sie gar nicht weiterfahren.«
Wieder legte der Arzt, wie es seine Angewohnheit war, den Kopf schief. »Wie meinst du das?«
»Ich bin, wie es aussieht, Quantrill entwischt. Aber vielleicht belagert er jetzt schon die Stadt. Es könnte gefährlich für Sie werden, wenn Sie weiterfahren.«
»Da hast du nicht unrecht, Gus«, meinte der Arzt überlegend und starrte in die Ferne, als könnte er seinen Blick bis nach Blue Springs schweifen lassen und herausfinden, ob Quantrill die Stadt bereits erreicht hatte. »Aber wenn sich alle anderen in Gefahr begeben, muß ich das auch. Außerdem kann es passieren, daß ich, sollten wir Pech haben, der wichtigste Mann in der Stadt werde. Eine Waffe in die Hand nehmen und jemandem die Knochen zerschießen, das ist keine Kunst. Die Knochen aber wieder zusammenflicken, das kann in Blue Springs nur ich.«
Gus nickte verstehend und tippte an seinen Hut. »Dann wünsche ich Ihnen viel Glück, Doc. Kann sein, daß Sie es brauchen. Ich muß jetzt weiter. Je eher ich in Kansas City bin, desto besser.«
Er wandte sich in dem Moment um und wollte zu seinem Pferd gehen, als er die Gestalten aus dem Unterholz treten sah. Nur auf den ersten Blick wirkten sie wie Waldgeister, die aus dem Boden wuchsen.
Dann sah er, daß es Männer waren, die sich leise angeschlichen hatten.
Bewaffnete Männer!
Ein Gedanke, ein Name beherrschte Gus sofort: Quantrill!
Gus riß den Karabiner hoch, wollte ihn in Anschlag bringen, doch dazu kam er nicht mehr. Einer der Fremden streckte die Hand mit dem Revolver vor und gab zwei rasch aufeinanderfolgende Schüsse ab.
Gus spürte den doppelten Schlag in seiner Brust, der ihn zurückwarf und gegen Doc Hatfields Wagen schleuderte. Mit dem Rücken an den Einspänner gelehnt, rutschte er zu Boden und schlug mit dem Gesicht auf die nasse Erde. Zum erstenmal seit dem Einsetzen des großen Regens empfand Gus dessen Nässe und Kühle als Wohltat.
Das war sein letzter Gedanke. Er sah nicht mehr, wie die schemenhaften Gestalten nähertraten und ihre Waffen auf den überraschten Arzt richteten.
*
Oregon war ein schönes Land, grün, bunt und reichhaltig, mit schattigen Wäldern, fruchtbaren Feldern und sauberen Städten aus frisch errichteten Holzhäusern. Ja, Oregon war ein schönes Land, jedenfalls in Irenes Traum.
In diesem Traum waren sie, Jamie und Carl eine glückliche Familie, die eins jener kleinen Holzhäuser bewohnte. Zu dem Haus gehörten ein schöner Garten und blühende Blumenbeete. Jamie war schon größer, besuchte die Schule und half hinterher seinem Vater bei der Feldarbeit. Das Leben in Oregon gefiel Irene.
Aber dann störte etwas die Idylle ihres Traums. Es war Carl, Jamies Vater und - im Traum - ihr Gemahl. Carl veränderte sich plötzlich, als er von der Arbeit heimgekehrt war und in der Stube mit ihr sprach.
Erst war es nur sein Gesicht. Es wurde jünger und offener, mit grünbraunen Augen und sandfarbenem Haar.
Das Gesicht von Jacob!
Dann war es auch die Stimme, die zu der Jacobs wurde.
Aber nicht für lange. Die Stimme veränderte sich weiter, wurde dunkler, härter, unfreundlich. Sie klang schnarrend und so laut, daß sie Irene aus dem Schlaf riß.
Erst war sie traurig darüber, erwacht zu sein. Erwacht aus dem Traum, in dem alle Strapazen hinter ihr und Jamie lagen und in dem Irene Carl und ihr Glück gefunden hatte.
Schatten legten sich über ihre Seele, als sie an die seltsame Veränderung dachte, die Carl in ihrem Traum durchgemacht hatte.
Was hatte das zu bedeuten?
Sollte es ihr zeigen, daß sie sich ihrer Gefühle für Carl nicht sicher war?
Sie konnte nicht leugnen, daß sie Jacob gegenüber Gefühle hegte, die sie vielleicht längst offen gezeigt hätte, wäre Carl nicht gewesen - und Jamie.
Irene stemmte sich in den Kissen hoch und sah zu dem Kinderbett hinüber, in dem ihr kleiner Sohn lag. Durch die Vorhänge drang gerade so viel Helligkeit ins Zimmer, daß sie seine Umrisse erkennen konnte. Der von der Reise erschöpfte Säugling lag auf der linken Seite und schlief friedlich, ruhig und gleichmäßig atmend und nichts von den Gedanken ahnend, die seine Mutter quälten.
Gedanken und Gefühle, derer sie sich nicht sicher war.
Welche Gefühle waren falsch, die für Carl oder die für Jacob?
Vielleicht sogar beide?
War sie nicht zu wahrer Liebe fähig?
Oder waren gar ihre Gefühle für beide Männer echt?
Sie wußte nicht mehr, was sie denken sollte.
Wieder fiel ihr Blick auf Jamie, und sie beschloß, alles so zu belassen, wie es war. Sie würde Jacob nicht sagen, daß er mehr für sie war als ein Freund und Reisegefährte. Schon Jamies wegen durfte sie das nicht. Nein, sie besaß kein Recht, ihrem Sohn den Vater zu nehmen, noch bevor Jamie eine Möglichkeit gehabt hatte, ihn kennenzulernen.
Vielleicht war es auch für Irene besser so. Im Augenblick mochten ihre Gefühle für Jacob größer sein als für Carl. Aber das war leicht zu erklären. Schließlich war Carl Tausende von Meilen von ihr entfernt, und sie hatte ihn seit vielen Monaten nicht gesehen.
Jacob aber war, seitdem das Auswandererschiff den Hamburger Hafen verlassen hatte, ihr ständiger Begleiter und Beschützer. Ohne ihn wäre sie vielleicht nicht einmal nach Amerika gekommen. Er hatte sich als Jamies Vater ausgegeben und dadurch verhindert, daß Irene als ledige Mutter von Bord der ALBANY gewiesen wurde, wie es das preußische Recht vorschrieb.