Er drückte ab, aber Walt schlug im letzten Augenblick seinen Waffenarm nach oben, so daß die Kugel über den Einspänner hinwegsirrte. Nelly begann aufgeregt zu tänzeln und wurde mühsam von einem der Männer beruhigt.
Dobbs sah den anderen mit flackerndem Blick an, in dem deutlich die Versuchung zu lesen war, den Revolver auf Walt zu richten. Walt stand scheinbar ruhig da. Nur die in der Nähe seiner rechten Hüfte schwebende Rechte zeigte, daß auch er bereit war, Dobbs mit der Waffe entgegenzutreten.
»Ich gebe hier die Befehle«, sagte Walt ruhig und scharf zugleich. »Niemand wird erschossen, wenn ich es nicht sage!«
Dobbs kaute überlegend auf seiner Unterlippe herum und steckte schließlich die Waffe weg.
»Hoffentlich machst du keinen Fehler, wenn du die beiden am Leben läßt, Walt«, knurrte er.
Walt kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern sah den Arzt an. »Woher weißt du, daß wir zu Quantrill zu gehören?«
»Gus Peterson hat es mir eben gesagt«, antwortete Hatfield, der mit dem Verband fertig war, seine blutigen Hände einfach in den Regen hielt und dann den Clerk wieder anzog.
»Er sollte in Kansas City Hilfe für Blue Springs holen, um die Stadt gegen euch zu verteidigen. Er dachte, er hätte eure Linien bereits hinter sich. Leider hat er sich getäuscht.«
»Das hat er gar nicht«, widersprach Walt und verzog sein stoppelbärtiges Gesicht zu einem Grinsen. »Er und du, ihr habt einfach nur Pech gehabt, daß wir zufällig auf euch gestoßen sind.«
Hatfield sah ihn überrascht an. »Dann ... gehört ihr gar nicht zu Quantrill?«
»Doch, das tun wir. Aber wir wissen nicht, wie weit der Captain mit Blue Springs ist. Wir waren mit einem anderen Auftrag unterwegs und sind jetzt auf der Suche nach ihm. Wo kommst du eigentlich her?«
»Von der Miller-Farm.«
Walt ließ sich die Lage der Farm von Hatfield genau beschreiben und meinte dann: »Hört sich an wie ein guter Stützpunkt. Das wird Todd interessieren.«
»Dort kann ich mich auch besser um Gus kümmern«, sagte der Arzt. »Eine Kugel steckt noch in seiner Brust. Unter den gegebenen Umständen konnte ich nur ein Stück Blei aus ihm herausholen.«
»Wird er den Transport denn überstehen?«
»In meinem Wagen vielleicht. Es ist seine einzige Chance.«
»Walt«, sagte Dobbs scharf, »willst du wirklich den Quacksalber und den Halbtoten mitschleppen?«
»Yeah, das will ich. Einen Arzt können einige unserer Männer gut gebrauchen. Und der Bursche aus Blue Springs könnte uns wichtige Informationen über die Verteidiger liefern, sobald er wieder das Maul aufkriegt.«
Walt wies seine Männer an, den bewußtlosen Clerk vorsichtig auf die Rückbank des Einspänners zu legen. Dann brach der Trupp in die Richtung auf, aus der Hatfield gekommen war.
Die Hälfte der Männer ritt vor dem Wagen her, die andere Hälfte folgte ihm. So hatte der Arzt nicht die geringste Möglichkeit zur Flucht.
Aber daran dachte er auch gar nicht. Ihm ging es im Augenblick einzig und allein darum, Gus Petersons Leben zu retten. Er war sich nicht sicher, ob es ihm gelingen würde.
Das Frühstück im Hause Cordwainer verlief im Gegensatz zum Abendessen fast schweigend. Es wurden nur kurze Sätze über die Lage der Verteidiger gewechselt.
Nach dem Essen gingen Jacob und Martin mit Byron und Ellery Cordwainer, um sich die Stellung zeigen zu lassen, in der sie Wache schieben sollten. Die Männer des Trecks sollten, nachdem sie sich in der Nacht von der anstrengenden Reise hatten erholen können, die Bürger von Blue Springs, die in der Nacht über die Stadt gewacht hatten, ablösen.
Irene ging wieder nach oben, um nach Jamie zu sehen. Aber vor der Tür zu Virginias Zimmer blieb sie stehen und lauschte.
Hatte sie nicht eben wieder jenes Wimmern gehört, daß ihr das Einschlafen so schwer gemacht hatte?
Als der Schlaf endlich zu Irene zurückgekehrt war, war er unruhig gewesen, von wilden Träumen zerrissen. Am Morgen war sie wie gerädert erwacht und hatte gar keine große Neigung zu einem angeregten Tischgespräch verspürt.
Virginia war nicht zum Frühstück erschienen. Ihr Gedeck war noch jungfräulich unberührt, als Irene wieder vom Tisch aufstand.
Die junge Deutsche machte sich Sorgen um die schwangere Frau. Sie unterdrückte ihr schlechtes Gewissen und legte ihr Ohr an die Schlafzimmertür. Ja, Victoria weinte und stöhnte zwischendurch immer wieder.
Irene klopfte an die Tür, zaghaft erst, dann, als keine Reaktion erfolgte, heftiger.
»Wer ist da?« fragte Victorias brüchige Stimme, die fast von einem Schluchzen erstickt wurde.
Irene nannte ihren Namen. »Darf ich eintreten?«
»Warum?«
»Vielleicht, um ihnen zu helfen.«
Für Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hörte Irene nichts.
Dann sagte Virginia: »Kommen Sie herein, bitte.«
Es klang nicht abweisend wie die Stimme eines Menschen, der sich in seiner Privatsphäre gestört wurde. Eher flehend, als hätte sich Virginia Irenes Besuch herbeigewünscht.
Die Auswanderin trat ein und bemerkte sofort, daß Virginia ihr Bett noch nicht verlassen hatte. Sie lag in den zerwühlten Kissen, und ihre lange, rote Haarpracht wirkte verfilzt. Ihr sonst so schönes Gesicht war vom vielen Weinen gerötet. Tiefe Ringe hatten sich unter ihre großen, grünen Augen gegraben. Jedenfalls beim rechten Auge war das deutlich zu erkennen. Das linke war eine einzige blaugrüne Schwellung; Virginia konnte es kaum öffnen. Deshalb also hatte sie gezögert, Irene hereinzubitten.
Die Deutsche trat langsam näher, ohne auf das luxuriös eingerichtete Schlafzimmer zu achten. Ihr Interesse und ihre aufrichtige Anteilnahme galten ganz allein der anderen Frau, die in ihrem riesigen, von einem Baldachin überspannten Bett verloren wirkte.
»Kann ich Ihnen helfen, Mrs. Cordwainer?« fragte Irene vorsichtig. »Soll ich Ihnen etwas zu essen bringen?«
Virginia schüttelte schwach den Kopf. »Nein, danke. Ich habe kein bißchen Hunger. Tun Sie mir einen Gefallen?«
Irene nickt, erfreut, für die andere Frau etwas tun zu können. »Aber sicher doch.«
»Sagen Sie einfach Virginia zu mir. Bei Mrs. Cordwainer fühle ich mich immer etwas unwohl. Ich habe dabei das Gefühl, gar nicht gemeint zu sein.«
»Gut, Virginia. Und ich heiße Irene.«
»Setzen Sie sich doch, Irene«, sagte Virginia und zeigte auf einen Stuhl, der in der Nähe des Bettes stand.
Als Irene der Aufforderung nachgekommen war, fragte sie: »Wie geht es Ihnen?«
Virginia sah sie zweifelnd an.
»Ich bin in der Nacht aufgewacht von . von dem Lärm«, erklärte Irene. »Ich habe Ihr Weinen gehört, eben auch.« Sie zeigte auf das geschwollene Auge der anderen Frau. »Hat Ihr Mann das getan? Hat er Sie geschlagen?«
Virginia nickte, und wieder rannen Tränen über ihre Wangen.
»Ich weiß, daß es mich nichts angeht«, fuhr Irene fort. »Aber wenn Sie möchten, können Sie mit mir darüber reden.«
Es war seltsam. In Deutschland, wo sie einfaches Dienstmädchen gewesen war, hätte sie es niemals gewagt, mit der Herrin eines großen Hauses so vertraulich zu sprechen wie mit Virginia Cordwainer. Aber hier in den Vereinigten Staaten war alles anders.
Sicher, auch hier gab es krasse Gegensätze. Irene hatte bereits viel Armut gesehen, schon bei ihrer Ankunft in New York.
Die Cordwainers dagegen waren reich, sehr reich. Und trotzdem fühlte sich Irene nicht so weit von ihnen entfernt, wie sie es bei ihrer Herrschaft in Hamburg und deren Bekannten getan hatte.
Dieses neue Land schien etwas Besonderes an sich zu haben. Etwas, das die Menschen in ihrem Denken und Fühlen einte, mochten sie äußerlich auch noch so verschieden sein.
Wieder nickte Virginia und wischte mit einem zerknitterten, weißen Taschentuch die Tränen aus ihrem Gesicht. »Ja, ich glaube, daß ich mit ihnen reden möchte, Irene. Ich muß einfach mit jemandem reden. Ich habe sonst niemanden hier.«