Zum wiederholten Mal fragte sich Edwin Hatfield, weshalb sie sich ausgerechnet seine Stadt ausgesucht hatten. War Blue Springs im Vergleich zu anderen Städten wirklich so reich, daß sich ein Raubzug wirklich lohnte? Immerhin mußten die Rebellen mit einer erbitterten Verteidigung durch Byron Cordwainers Jayhawkers rechnen, mochten ihnen die Südstaatler auch zahlenmäßig weit überlegen sein.
Hatfield wurde das Gefühl nicht los, daß mehr hinter der Sache steckte. Quantrill schien es sehr eilig zu haben mit dem Angriff auf Blue Springs. Warum? Was war heute anders als morgen?
Der Arzt fand keine Antwort auf die Frage. Quantrill oder dessen Leute mochte er nicht darum bitten. Vielleicht war es ganz gut, nicht zu viel zu wissen. Gut für seine Lebenserwartung.
Zwei junge Männer aus Quantrills Schar, einer von ihnen fast noch ein Kind, schlenderten scheinbar ziellos auf das Haus zu. Aber Hatfield erkannte sofort, daß sie trotz ihrer zur Schau gestellten Gleichgültigkeit ein bestimmtes Ziel im Auge hatte: ihn.
Oft genug hatte er diesen Blick gesehen, bei Betrunkenen und Raufbolden. Sie waren auf der Suche nach einem Opfer, um sich selbst zu beweisen. Um ihre eigenen Schwächen damit zu übertünchen, einen anderen als Schwächeren darzustellen.
Was sie von Hatfield wollten, konnte er sich vorstellen: Er war, wie alle Leute von Blue Springs, ein Gegner der Sklaverei, ein Freistaatler, ein verhaßter Yankee. Das genügte in diesen Zeiten, um den Haß verbohrter Hitzköpfe auf sich zu ziehen.
Er glaubte, die zwei Kerle schon in der Nacht bei George Todds Männern gesehen zu haben, war sich dessen aber nicht sicher. Beide waren etwas über mittelgroß, aber nicht hochgewachsen zu nennen, und erweckten eher einen sehnigen als kräftigen Eindruck. Beiden fiel das dunkle, verfilzte Haar bis auf die Schultern.
Den Älteren schätzte er auf Mitte bis Ende Zwanzig. Sein rundes, stoppelbärtiges Gesicht wurde von einer großen, gebogenen Nase beherrscht, die fast bis über seinen dünnen Schnurrbart reichte und ihm das Aussehen eines Raubvogels verlieh. Zu diesem Eindruck trugen auch seine leicht vorgewölbte Stirn und der lauernde Blick seiner Augen bei, die Hatfield musterten, wie es ein Habicht mit dem erspähten Wildkaninchen tat, kurz bevor er sich auf die Beute stürzte. Er trug einen runden, schmalkronigen Hut, ein rotweiß kariertes Halstuch und eine abgewetzte Jacke mit pelzbesetztem Kragen. Statt eines Waffengürtels hatte er eine rote Schärpe um seine Hüften gebunden, in der zwei Navy Colts mit den Griffen nach vorn steckten; so trugen nur außerordentlich schnelle Schützen ihre Warfen.
Der Jüngere war sicher noch keine Zwanzig und bewegte sich mit der ungelenk wirkenden Schlaksigkeit der Jugend. Die offenen Augen in seinem schmalen, glatthäutigen, von der verbogenen Krempe seines speckigen Hutes teilweise beschatteten Gesicht blickten so unbekümmert drein, daß Hatfield dem Burschen nichts Böses zugetraut hätte, wäre sein Blick nicht so auf den Arzt fixiert gewesen. Er trug ein blaues Halstuch und eine an den Nähten mit Fransen besetzte Lederjacke, die ihm ein wenig zu groß war und unterstrich, daß ihr Träger vielleicht noch wachsen würde. Über die Jacke hatte er den Waffengurt geschnallt, in dem ein 44er Adams & Tranter-Revolver und ein Bowiemesser steckten. Trotz seiner Jugend trug er die Waffen mit der Sicherheit eines Mannes, der mit ihnen umzugehen wußte.
Sie bauten sich breitbeinig vor Hatfield auf. Die Hände des Älteren schwebten über den Griffen seiner Navy Colts. Der Jüngere hakte seinen Finger betont lässig in den Waffengurt, um zu verdeutlichen, daß der Arzt für ihn keine Gefahr darstellte.
»Sind Sie mit Ihrer Metzelei fertig, Doc?« fragte der Mann mit dem Raubvogelgesicht und bleckte dabei seine Zähne.
»Metzelei ist wohl kaum der richtige Ausdruck für meine Arbeit«, entgegnete Hatfield.
»Wieso?« hakte der Mann mit der roten Schärpe nach. »Haben Sie dem armen Matt Boulder etwa nicht den Arm abgesäbelt?«
»Das mußte ich tun. Sonst wäre er am Wundbrand gestorben.«
Der Hakennasige spukte vor dem Arzt aus. »Pah, eine Ausrede! In Wahrheit haben Sie es doch genossen, Doc, unsere Kameraden zu zerstückeln. Sie sind ein verdammter Yankee und lassen bestimmt nichts unversucht, uns zu schaden. Ein Arzt, der es gewollt hätte, hätte Matts Arm retten können!«
»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Hatfield und versuchte, seine Ruhe zu bewahren. »Haben Sie Medizin studiert?«
»Nein, aber ich habe Augen im Kopf. Und mit denen erkenne ich, daß Sie ein verdammtes Yankeeschwein sind, daß uns schadet, wo es nur kann. Was sagst du dazu, Will?«
Der Angesprochene ließ seine Augen weiterhin auf Hatfield ruhen, als er antwortete: »Allerdings, Jim. Wenn der Knochenflicker unseren Kameraden wirklich geholfen hat, will ich Abe Lincoln heißen!«
»Ich denke, diese Unterhaltung bringt uns nicht weiter«, sagte Hatfield und wandte sich um, um ins Haus zurückzugehen. »Daher erlaube ich mir, sie zu beenden.«
Der Hakennasige riß ihn mit solcher Wucht herum, daß Hatfield ins Stolpern geriet und fast gestürzt wäre.
»Machen Sie sich etwa in die Hose, Doc?« fuhr er den Arzt an. »Sie sind wohl genauso ein Feigling wie alle Yankees. Einem wehrlosen Mann den Arm abhacken, das können Sie. Aber wenn sie einem Mann gegenüberstehen, der sich verteidigen kann, verläßt Sie der Mut!«
»Was heißt verteidigen?« fragte Hatfield und schaute auf die Waffen der beiden Streitsuchenden. »Ein Unbewaffneter gegen zwei Bewaffnete. Wie soll ich mich da verteidigen?«
»Will wird Ihnen gern seinen Revolver leihen«, meinte der Hakennasige mit einem breiten Grinsen. »Stimmt's, Will?«
Der nickte und grinste ebenfalls. »Aber sicher doch.« Er zog den 44er aus dem Lederholster und hielt Hatfield die Waffe hin. »Bedienen Sie sich, Knochenflicker. Aber greifen Sie schnell zu. Mein Freund zieht nämlich schneller als jeder andere, den ich kenne.«
»Ich bin kein Mann der Waffe«, sagte Hatfield, äußerlich noch immer ruhig, obwohl seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. Ihm war klar, worauf die Sache hinauslief: Die beiden jungen Guerillas würden nicht eher Ruhe geben, bis er tot vor ihnen im Schlamm lag. »Mein Beruf ist nicht das Töten. Ich rette Leben!«
»Und Sie zerstückeln Menschen, die sich nicht wehren können«, beharrte der Mann mit den beiden Navy Colts. »Verteidigen Sie sich endlich!«
Der Jüngling in der fransenbesetzten Lederjacke hielt seinen Revolver noch ein Stück höher.
Hatfields Anspannung war so groß, daß er fast versucht war zuzugreifen, nur um etwas zu tun.
»Was ist hier los?« fragte eine scharfe Stimme. »Was soll das?«
Die Stimme gehörte Quantrill, der sich in Begleitung Bloody Bill Andersons, George Todds, der James-Brüder und Cole Youngers dem Haus genähert hatte.
»Wir versuchen gerade, dem verdammten Yankee Respekt vor uns beizubringen«, sagte der Hakennasige. »Damit er nicht einfach unsere Kameraden zerstückelt.«
Quantrill sah den Arzt fragend an.
»Er meint den Mann, dessen Arm ich amputieren mußte«, erklärte Hatfield. »Die beiden wollen mir nicht glauben, daß es nicht anders ging.«
»Dieser Mann ist Arzt und hat nur seine Pflicht getan«, sagte Quantrill. »Ihr laßt ihn jetzt in Ruhe!«
»Einem verdammten Yankee kann man niemals trauen«, sagte der Jüngling und zog den Hahn seines 44ers zurück, während er die Mündung unter Hatfields Kinn drückte.
Quantrill zog seine beiden Revolver und richtete sie auf den Jungen. »Ich habe gesagt, der Doc wird in Ruhe gelassen. Ich kann es nicht leiden, wenn man meine Befehle mißachtet.«
Mit einem mißmutigen Knurren steckte der Bursche in der Fransenjacke seinen 44er zurück ins Holster.
»Wir trauen den Yankees halt nicht«, nahm ihn sein hakennasiger Freund in Schutz.