Die beiden Reiter trieben die übrigen Pferde vor sich her und ließen sie in etwa einer Meile Entfernung von der Farm laufen. Wenn es den eingeschlossenen Guerillas gelang, sich zu befreien, würden sie eine Weile brauchen, um Quantrill von dem zu verständigen, was sich hier ereignet hatte.
Die hinter den aufreißenden Wolken hervorlugende Sonne hatte den Zenit schon überschritten, und Quantrills Streitmacht mußte die Stadt bald erreicht haben.
*
Jacob blinzelte in die Sonne, die sich Mühe gab, die dicken, grauweißen Wolken zu vertreiben, und war dankbar, daß der unermüdliche, schwere Regen am Morgen aufgehört hatte. Für die Männer, die in der Nacht Wache gehalten hatte, mußte es die Hölle gewesen sein.
Jacob und Martin kauerten mit einer Gruppe von Männern, die aus Reisenden der PRIDE OF MISSOURI und aus Fuhrleuten bestand, hinter den umgekippten Wagen am östlichen Ende der Main Street, und warteten darauf, daß etwas geschah. Nicht, daß sie sich Quantrills Angriff herbeisehnten. Aber das Warten und Nichtstun zerrte an ihren Nerven, ließ sie immer nervöser werden und sich bei jedem verdächtigen Geräusch an ihre Gewehre klammern.
Seit zwei Stunden war Byron Cordwainer bei ihnen. Ellery Cordwainer befehligte die Männer am Westende der Main Street, dem zweiten neuralgischen Punkt der Stadtverteidigung.
Der Mann in der Offiziersuniform war trotz seiner äußerlichen Gelassenheit erkennbar unruhig. Jacob hatte das unbestimmte Gefühl, daß dies nicht nur an dem erwarteten Überfall lag.
Der Deutsche konnte nicht wissen, daß den Major die bevorstehende Niederkunft seiner Frau beschäftigte. Nicht, weil ihm etwas an dem Kind lag; am liebsten hätte er es tot gesehen. Aber es gefiel ihm nicht, wie Irene mit ihm gesprochen hatte. Bis jetzt war Virginia ihm gegenüber unterwürfig gewesen, seit er sie von der Plantage dieser verfluchten Hunters geholt hatte. Er wollte nicht, daß sich das änderte. Er brauchte keine Frau mit eigenem Willen, sondern einen gut kontrollierbaren Geschäftsanteil an der Lawrence Missouri Bank.
»Elende Warterei«, knurrte Martin, fuhr mit der Hand unter seine Mütze und über seinen rotblonden Haarschopf. »Ich komme mir vor, wie jemand, den sein Mädchen versetzt hat.«
»Dann wärst du wahrscheinlich viel glücklicher über das Warten als jetzt«, meinte Jacob mit einem Grinsen. »Ich jedenfalls kann es durchaus erwarten, Quantrills Mordbande gegenüberzustehen.«
»Ich weiß nicht«, meinte sein Freund und wiegte seinen Kopf hin und her. »Wenn es schon sein muß, kann es auch jetzt gleich passieren.«
»Das kannst du haben«, zischte Jacob plötzlich sehr ernst.
Er lugte durch einen schmalen Schlitz zwischen den Fässern, die zur Stabilisierung der Barrikaden hinter die umgekippten Wagen gestapelt worden waren, nach draußen. Dort kam etwas über die nächste Hügelkuppe.
»Ein Reiter!« rief Jacob laut.
Sofort waren alle alarmiert, stürzten an die Barrikaden und spähten nach draußen.
Der Reiter war allein. Keine Spur von Quantrills kleiner Armee. Er ritt im wilden Galopp auf die Stadt zu, schien es sehr eilig zu haben und die Verteidiger auf etwas hinweisen oder vor etwas warnen zu wollen. Jedenfalls winkte er wild mit beiden Armen, so daß sich die Männer hinter den Barrikaden fragten, wie er sich überhaupt auf seinem Pferd hielt.
»Er reitet einen Schecken«, rief Jacob aus.
»Verflucht«, knurrte Cordwainer, der sich neben ihn drängte, um einen Blick nach draußen zu erhaschen.
»Was ist?« fragte Jacob.
»Gus Peterson reitet einen Schecken.«
»Der Kurier, den Sie nach Kansas City geschickt haben?«
»Yeah.« Cordwainer spähte weiterhin angestrengt nach draußen. »Es könnte Gus sein. Warum, zum Teufel, ist er umgekehrt?«
»Vielleicht konnte er Quantrills Linien nicht durchbrechen«, vermutete Martin.
»Das wäre möglich«, sagte der Major und wurde in plötzlicher Erregung laut: »Es ist Peterson. Jetzt erkenne ich ihn genau.«
Mit unverminderter Geschwindigkeit hielt der Schecke auf die Barrikaden zu, als wollte er sie einfach über den Haufen rennen. Noch immer winkte der Reiter wild mit beiden Armen, ohne daß zu erkennen war, was er wollte. Es war ein junger, schlanker Bursche ohne Kopfbedeckung. Das blonde Haar hing wirr an seinem Kopf herunter.
»Er scheint verletzt zu sein«, rief Jacob aus, als er das Blut sah, daß Petersons Gesicht bedeckte.
Etwa zehn Yards vor den Barrikaden erkannte der Reiter, daß für ihn kein Durchkommen war. Der Schecke wurde langsamer, hielt an, und scharrte unruhig mit den Hufen. Peterson winkte nicht mehr, sondern hing schlaff vornübergebeugt im Sattel.
»Es sieht aus, als sei er ohnmächtig geworden«, sagte Martin.
Jacob lehnte den Karabiner, den er von Nate Collum bekommen hatte, an ein Faß. »Ich werde ihn holen.«
»Nein«, entfuhr es Martin. »Ich traue dem Braten nicht. Das riecht verdammt nach einer Falle. Vielleicht liegen Quantrills Männer im Hinterhalt und warten nur darauf, daß sich einer von uns zu weit vorwagt.«
»Wir müssen es riskieren«, erwiderte Jacob. »Peterson darf doch nicht vor unseren Augen verrecken. Gebt mir Feuerschutz.«
Dann kletterte der große, breitschultrige Deutsche auch schon über die Barrikaden.
Die übrigen Verteidiger legten ihre Gewehre an und warteten darauf, daß sich der Feind zeigte.
Martins schweißnasse Hände krampften sich besonders fest um die alte Vorderladerflinte, die man ihm in die Hand gedrückt hatte. Besorgt beobachtete er seinen Freund, der, als er die Barrikaden überwunden hatte, in gebückter Haltung auf Peterson zulief.
Jacobs Augen suchten immer wieder die umliegenden Hügel ab auf der Suche nach feindlichen Heckenschützen, ohne Erfolg. Der Schecke scheute, als er ihn fast erreicht hatte. Der Deutsche gab seine gebückte Haltung auf und ging mit erhobenen Händen, beruhigende Worte aussprechend, auf das Tier zu. Peterson schien es nicht mehr unter Kontrolle zu haben; offenbar hatte der Kurier das Bewußtsein verloren.
Als es Jacob gelang, die Zügel des Schecken zu ergreifen, erkannte er, was mit Peterson los war. Der blonde, junge Mann war tot, und das nicht erst seit eben. Seine Beine waren mit mehreren Stricken fest an den Schecken gebunden. Seine Arme waren beim wilden Galopp hin und her geschleudert worden, was von weitem ausgesehen hatte wie heftiges Winken.
Eine Kugel hatte Peterson in die Stirn getroffen. Das war nicht seine einzige Verwundung. Seine Brust war über und über mit Blut bedeckt. In ihr steckte ein großes Messer, das ein blutiges Stück Papier an den Toten heftete.
Angewidert führte Jacob das Pferd mit seinem toten Reiter zu den Barrikaden, wo man einen Durchlaß für sie schaffte, der hinter ihnen sofort wieder verschlossen wurde.
»Was ist mit Peterson?« fragte Cordwainer erregt.
Wortlos zeigte Jacob auf den Reiter, dessen Oberkörper nach hinten gefallen war und der die Verteidiger aus gebrochenen Augen anstarrte.
»Diese Schweine!« entfuhr es Cordwainer. »Jetzt sind wir von der Außenwelt völlig abgeschnitten.«
Er zog das Messer mit dem blutigen Stück Papier aus Petersons Brust. Der Zettel enthielt eine Nachricht in deutlicher Handschrift, die Cordwainer laut vorlas:
»An die Bürger von Blue Springs! Wir haben euch umzingelt und sind in der Übermacht. Euren Kurier und Euren Arzt haben wir abgefangen. Ergebt Euch ohne Bedingungen innerhalb einer Stunde, dann wird Euch nichts geschehen. Captain William C. Quantrill.«
»Doc Hatfield haben sie also auch«, sagte einer der Männer aus Blue Springs.
Die Nachricht von dem Reiter hatte sich so schnell herumgesprochen, daß laufend neue, schwerbewaffnete Männer zu den Barrikaden gerannt kamen.
Cordwainer knüllte den Zettel zusammen und warf ihn wütend über die umgestürzten Wagen. »Wenn dieser Teufel von Quantrill denkt, er kann uns einschüchtern, hat er sich getäuscht. Wir verteidigen unsere Stadt bis zum letzten Mann.«