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Allmählich wurde ihm bewußt, daß der Schwarze kein Teufel war. Ein Name drängte sich in Custis' Bewußtsein.

»Melvin?«

»Ja, Master Custis. Wie fühlen Sie sich?«

»Was ist geschehen, Melvin?« fragte Custis röchelnd. Bei jeder Silbe spürte er Schmerzen.

»Die Jayhawkers waren da«, sagte Melvin seltsam unbeteiligt, als ginge ihn das alles nichts an. »Sie haben alle getötet und alles niedergebrannt.«

Custis saß am Waldrand auf dem Boden und lehnte mit dem Rücken gegen den mächtigen Stamm einer Buche. Jetzt erst realisierte er, daß das grelle Licht, das ihn blendete, nicht von der allmählich höher kletternden Sonne stammte, sondern von dem Flammenmeer, das einmal das Herz von Starcrest gewesen war. Das Ergebnis der vielen Jahre, die sein Vater zum Aufbau der Plantage gebraucht hatte, wurden in wenigen Minuten ausradiert.

Sein Vater!

Das Bild aus dem Fegefeuer tauchte wieder in Custis' Bewußtsein auf. Das Bild seines Vaters, der wie tot am Boden lag und auf die nimmersatten Flammen wartete.

»Vater«, keuchte Custis und versuchte aufzustehen, aber sofort drückte ihn eine Schmerzwelle auf den Boden zurück.

»Sie können nicht aufstehen, Master Custis«, belehrte ihn der schwarze Hüne. »Sie sind viel zu schwach. Eine ganze Handvoll Kugeln hat Sie in der Brust erwischt.«

»Aber ich muß Vater helfen!«

»Das können Sie nicht, Master Custis. Ihr Vater ist tot, ermordet von den Jayhawkers.« Melvins Stimme wurde leise, und sein Blick senkte sich zu Boden. »So wie meine Lisa.«

Lisa war Melvins Frau. Sie hatten erst vor wenigen Monaten geheiratet. Es war eine der prächtigsten Hochzeiten gewesen, die jemals unter Negersklaven stattgefunden hatten. Custis hatte es sich nicht nehmen lassen, die Feier fast so aufwendig zu gestalten wie die Hochzeit weißer Plantagenbesitzer. Schließlich war Melvin für ihn fast so etwas wie ein Freund.

Vor vielen Jahren, als beide Männer noch Kinder gewesen waren, hatte Custis, der das einzige Kind seiner Eltern war, den farbigen Jungen sogar für seinen Bruder gehalten. Unzertrennlich waren sie gewesen. Bis Robert Hunter seinem Sohn erklärt hatte, daß Weiße und Schwarze keine Freunde und schon gar keine Brüder sein konnten. Trotzdem hatte Custis und Melvin stets ein starkes Band verbunden.

»Was ist mit Lisa?« fragte Custis, der nicht richtig begriff.

»Die Jayhawkers haben sie getötet«, antwortete der Schwarze düster.

»Die Jayhawkers?«

Für Custis ergab das keinen Sinn.

Jayhawkers oder auch Freistaatler nannte man jene Guerillas, die auf der Seite der Nordstaaten für die Sklavenbefreiung kämpften. Byron Cordwainer, der sich in den Indianerkriegen den Rang eines Majors der US-Armee erworben hatte, hatte seine Uniform wieder angezogen und eine irreguläre Jayhawker-Kompanie aufgestellt.

Aber weshalb sollten sie Schwarze töten, für deren Rechte sie angeblich eintraten?

Angeblich deshalb, weil sie dieses Ziel oft genug nur als Legitimation für Raubzüge mißbrauchten. Oder für persönliche Rachezüge, wie es Byron Cordwainer an diesem Morgen getan hatte.

»Als die Jayhawkers in die Sklavensiedlung ritten und unsere Hütten in Brand steckten, lief Lisa ihnen entgegen und schrie, sie sollten aufhören. Die Jayhawkers haben sie einfach über den Haufen geritten. Sie ist tot. Sie und ...«

Melvin brach mitten im Satz ab. Aus seinen Augen flossen keine Tränen, aber sein Schweigen bedeutete dasselbe.

Er mußte nicht weitersprechen. Custis wußte auch so, was er hatte sagen wollen. Lisa war schwanger gewesen. Mit seiner Frau hatte Melvin auch sein Kind verloren.

Custis dachte an Virginia und fragte Melvin nach seiner Geliebten.

»Die Jayhawkers haben sie mitgenommen.«

»Hat sie sich gewehrt?«

»Es sah aus, als wäre sie bewußtlos.«

Angst stieg in Custis auf.

»War sie etwa verletzt?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete der schwarze Hüne.

Allmählich brannten die Feuer nieder. Die Nahrung ging ihnen aus. Starcrest, die stolze Plantage am Missouri, war nicht mehr.

»Wenn die Flammen verloschen sind, können wir sehen, was noch übrig ist«, sagte Melvin mit einem plötzlichen Anflug von Optimismus.

Custis sah ihn fragend an. »Wozu?«

»Um Starcrest wieder aufzubauen.«

Der Weiße schüttelte den Kopf und murmelte: »Starcrest wird nie wieder erstehen. Vielleicht war es ein Zeichen.«

»Ein Zeichen?«

»Vielleicht sind die Jayhawkers gemeine Mörder, die gleichwohl für die gerechte Sache streiten.«

»Das müßte ich wohl eher sagen, Master Custis.«

Melvin hatte recht. In einer anderen Situation hätte Custis jetzt laut gelacht.

Aber es war auch eine seltsame Situation, in der sich die Vereinigten Staaten zur Zeit befanden. Obwohl der Staat Missouri zur Union gehörte, war hier die Sklavenhaltung weiterhin erlaubt. Präsident Lincoln hatte die Sklaverei nur in den Südstaaten für abgeschafft erklärt, um die Sklavenstaaten der Union nicht zu verprellen. Jetzt, im Krieg, konnte er sich das nicht leisten.

Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die Sklaverei überall in den Vereinigten Staaten verboten sein würde. Das wurde Custis auf einmal klar, als er die Plantage in Flammen aufgehen sah. Wozu etwas wieder aufbauen was sich selbst überlebt hatte?

»Starcrest ist nicht mehr«, sagte der Weiße bitter. »Mit dem heutigen Tag sind alle Schwarzen, die meinem Vater gehörten, freie Menschen.« Er sah Melvin an. »Das gilt auch für dich.«

»Dann möchte ich bei Ihnen bleiben, Master Custis.«

»Warum?«

»Um Jagd zu machen auf Cordwainer und seine Jayhawkers.«

»Liest du etwa meine Gedanken?« »In unserer Lage kann es keinen anderen Gedanken geben.«

Custis wollte Melvin sagen, daß er recht hatte. Aber die Schmerzen in seiner Brust wurden unerträglich und rissen ihn in ein finsteres Loch, das nur ein Gutes an sich hatte: Es brachte Vergessen mit sich.

*

Über ein halbes Jahr später, Ende Juni 1863.

Die großen Flüsse brachten ihnen kein Glück. Dieser Gedanke bewegte Jacob Adler, während er und seine Freunde in dem unbequemen, mit einer löchrigen Plane bespannten Kastenwagen durch das vom Dauerregen aufgeweichte Land geschaukelt wurden.

Zwischen ihm und seinem Freund Martin Bauer saß Irene Sommer und hielt ihren kleinen Sohn Jamie an ihre runde Brust. Der Säugling hatte Hunger und scherte sich nicht darum, daß er und seine Mutter keinen eigenen, abgetrennten Raum zu Verfügung hatten.

Auf der PRIDE OF MISSOURI hätten sie diesen Raum gehabt. So hieß der Heckschaufelraddampfer, mit dem die deutschen Auswanderer von St. Louis aus den Missouri heraufgefahren waren, um in Kansas City Anschluß an einen Oregon-Treck zu bekommen.

Seit einer geschlagenen Woche regnete es unaufhörlich. Die PRIDE OF MISSOURI hatte ihre Bestes gegeben, um gegen den aufgewühlten Strom anzukämpfen. Das Schiff hatte sich gegen die immer stärker werdende Strömung gestemmt und sich dreimal unter Mühen von Sandbänken gelöst, die sich erst seit kurzem an ihrem Platz befanden. Aber als ein riesiger Felsbrocken, der wohl durch abgetragenes Land gelöst worden und schließlich in den Fluß gerollt war, dem Schiff den halben Rumpf aufschlitzte, gab der entnervte Kapitän auf. Immerhin besaß die Reederei den Anstand, allen Passagieren eine Wagenfahrt nach Blue Springs und von dort aus die Zugfahrt nach Kansas City zu bezahlen.

Nein, die Flüsse brachten den deutschen Auswanderern wirklich kein Glück. Erst die Entführung des Flußdampfers ONTARIO auf dem Ohio, dann der Anschlag von Quantrills Südstaaten-Guerillas auf das Kanonenboot USS RA VAGER, und schließlich das verhängnisvolle Wettrennen zwischen den beiden großen Mississippi-Steamern QUEEN OF NEW ORLEANS und QUEEN OF ST. LOUIS, bei dem die NEW ORLEANS unter tragischen Umständen gesunken war.