Fast war Jacob froh darüber, wieder festes Land unter sich zu haben. Wenn die Schaukelei in dem knarrenden, quietschenden Wagen auch zuweilen schlimmer war als das Schlingern eines Schiffes. Und viel weniger Wasser gab es hier in der weiten Prärie auch nicht.
Pausenlos trommelte der Regen auf die über gebogene Stangen gespannte Plane, und durch unzählige Löcher tröpfelte er ins Innere des zum Menschentransporter umgewandelten Frachtwagens. Mehr als ein Dutzend Menschen drängten sich mit ihrem Gepäck auf der Ladefläche zusammen, und kaum einer konnte von sich sagen, nicht klitschnaß zu sein.
Immer wieder mußten die Passagiere aussteigen, weil der Wagen im Matsch feststeckte und die vier Ochsen im Joch es trotz aller Anfeuerungsrufe und aller Peitschenhiebe des graubärtigen Kutschers nicht schafften, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Dann mußten die Männer anfassen und schieben, während die Frauen vor Nässe bibbernd danebenstanden, falls sie es nicht vorzogen, auch mitanzufassen, wobei sie sich wenigstens etwas aufwärmen konnten.
An die dreißig Wagen zählte der lange Treck, der heute morgen von dem kleinen Ort Wolverton am Missouri aufgebrochen war, um die Passagiere der PRIDE OF MISSOURI zur Bahnstation nach Blue Springs zu bringen.
Jetzt war es bereits Nachmittag, doch das Ziel würde man wohl erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen.
Zur Linken floß der Blue River und überflutete, vom Dauerregen gespeist, seine Ufer. Der Zufluß des Missouri, dessen Quelle in Blue Springs lag, verdankte seinen Namen dem ungewöhnlich blauen Wasser, das gar nicht aussah wie die braune Schlammbrühe des Missouri, der letzterer seinen Spitznamen >Big Muddy< verdankte.
Jedenfalls sollte das Wasser im Blue River normalerweise blau aussehen. Derzeit unterschied es sich kaum von den Fluten des Missouri. Der über die Ufer getretene Fluß hatte soviel Land mit sich gerissen, daß er jetzt besser >Brown River< geheißen hätte.
»Ob wir jemals nach Kansas City kommen?« fragte Irene zweifelnd, als Jamie gesättigt war und sie ihm sanft auf den Rücken klopfte, damit er sein Bäuerchen machen konnte.
Jacob sah sie irritiert an. »Weshalb denn nicht?«
»Weil immer wieder etwas dazwischenkommt. Nur Unglücksfälle und andere Katastrophen bis jetzt, auf der ganzen Strecke.«
Irene schienen ähnliche Gedanken zu beschäftigen wie Jacob.
»Alles hat einmal ein Ende, auch das Unglück«, versuchte Jacob die junge Frau zu beruhigen. »Was soll auch noch geschehen? Sobald wir Blue Springs erreichen, steigen wir in den nächsten Zug nach Kansas City und sind schneller da, als du es dir jetzt träumen läßt.«
Irene lächelte dankbar. »Deine aufmunternden Worte machen mir Mut, Jacob. Gebe Gott, daß sie die Wahrheit treffen.«
»Bestimmt«, brummte Martin mit leicht heiserer Stimme. »Soviel Pech und Aufregungen, wie wir seit unserer Ankunft in New York schon gehabt haben, reichen normalerweise für ein ganzes Leben.«
»Für zwei Leben«, verbesserte ihn Jacob lachend.
Das Lachen blieb ihm im Halse stecken, als der Wagen plötzlich anhielt.
»O nein«, stöhnte Irene auf. »Schon wieder ein Zwischenfall.«
»Wahrscheinlich ist wieder ein Wagen im Morast steckengeblieben«, meinte Martin fast gleichgültig.
Sie warteten ab. Warteten auf den Ruf, der die Passagiere eines Wagens zum Aussteigen und Schieben aufforderte. Aber sie hörten diesen Ruf nicht. Ihr Wagen fuhr in der Mitte der langen Schlange. Vermutlich befand sich der liegengebliebene Wagen ziemlich weit vorn. Zu weit, um die Kommandos zu hören. Hinter ihnen konnte er kaum liegen, denn das hätte sie nicht aufgehalten.
Die Minuten verrannen, ohne daß etwas geschah. Gerade wollte sich Jacob bei ihrem Kutscher erkundigen, was los sei, als der vielstimmige Schrei der Fahrer ertönte, der Ochsen, Maultiere und Pferde dazu bringen sollte, sich für ihre menschlichen Herren anzustrengen.
Der Kastenwagen ruckte knarrend an und bewegte sich vorwärts, erst kaum merklich, dann immerhin so schnell, wie ein Mann normalerweise ging. Mehr war bei den schwer beladenen Wagen und dem aufgeweichten Boden nicht möglich.
Jacob kletterte zwischen Menschen, Kisten, Taschen und Säcken nach vorn, schlug die festgezurrte Plane ein Stück beiseite und fragte den Kutscher nach dem Grund des Aufenthalts.
»Drei Reiter sind zu uns gestoßen«, sagte der Alte kaum verstehbar, während er heftig ein großes Stück Kautabak in seinem Mund bearbeitete. »Jetzt ändern wir unsere Richtung, wie es aussieht.«
Als der Deutsche nach vorn sah, fand er die Aussage des Fahrers bestätigt. Der Kopf der Wagenschlange vollführte eine Drehung, der die Kolonne vom Lauf des Blue River wegführen würde. Und damit auch weg von Blue Springs, ihrem Ziel.
»Ich sehe einmal nach, was los ist«, sagte Jacob zu seinen Freunden im Wagen, kletterte ganz auf den Bock und sprang von dort hinunter in den Morast, in dem er fast bis zu den Knien versank. Nicht zum erstenmal an diesem Tag.
Die Wagen hatten den Boden zusätzlich aufgewühlt. Jacob beeilte sich, etwas von der Kolonne wegzukommen, bis er nur noch bis zum Rand seiner Stiefel im Schlamm stand.
Die unterschiedlichsten Wagen mit den unterschiedlichsten Zugtieren rumpelten an ihm vorbei. Plumpe Kastenwagen mit notdürftig übergespannten Planen. Große Conestogas, sogenannte Prärieschoner, die fast zu schwer für den aufgeweichten Boden waren. Geräumige Murphy-Wagen mit rundum geschlossener Verdeckplane und flachem Wagenbett. Kleine Dearborn-Wagen, die sich aufgrund ihres geringen Gewichts noch am leichtesten durch den Schlamm wühlten.
Die Fahrer beachteten Jacob kaum, so erschöpft waren sie von der langen, anstrengenden Fahrt, die nur zur Mittagsstunde durch eine kurze Rast unterbrochen worden war. Außerdem hatten sie sich so unter ihre Ölhäute und breitkrempigen Hüte verkrochen, daß jede Bewegung zur Seite einen unerwünschten Wasserstrom ins Gesicht oder in den Nacken zur Folge gehabt hätte.
Jacob zog seine Schirmmütze weit nach vorn, um sein Gesicht vor den großen, harten Tropfen zu schützen, die hagelartig in dichten Reihen auf das weite, offene Grasland niederprasselten. Bei Sonnenschein hätte er sich vielleicht bewundernd umgesehen, um alle Einzelheiten dieses immer wieder neuen Landes in sich aufzunehmen. Aber jetzt, wo der wolkenverhangene Himmel die Sonne aussperrte, sah alles nur öde und trostlos aus.
Mit weit ausholenden Schritten stapfte der junge Zimmermann nach vorn und überholte einen Wagen nach dem anderen. Egal ob Maultiere, Ochsen oder Pferde, alle Zugtiere waren in einen müden Trott verfallen, der es ihnen gerade noch erlaubte, die Wagen weiterzuziehen. Mühelos lief Jacob an ihnen vorüber, obwohl sich seine schweren Rindslederstiefel bei jedem Schritt am Boden festsaugten und sich erst nach kräftigem Ziehen mit einem lauten Schmatzen wieder lösten.
Eine innere Unruhe hatte ihn ergriffen und trieb ihn voran. Die plötzliche Kursänderung irritierte ihn - mehr noch, beunruhigte ihn. Seit er seine deutsche Heimat verlassen hatte und nach dem fernen Amerika aufgebrochen war, hatte er ein Gespür für gefährliche Situationen entwickelt. Dies hier schien eine zu sein, wenn ihn sein Gefühl nicht ganz und gar täuschte.
Bald sah er die vier Reiter, die ihre Pferde dicht beieinander hielten und die Kolonne anführten. Es sah so aus, als unterhielten sie sich angeregt. Noch konnte er durch die Regenschleier nur ihre groben Umrisse erkennen. Die drei, die er nicht kannte, mußten die Neuankömmlinge sein, die vor einigen Minuten zu dem Treck gestoßen waren. Der vierte Mann war Nate Collum, der irische Treckführer.
Collum hatte Jacob bemerkt, riß seinen knochigen Braunen herum und trieb ihn auf den Deutschen zu. Dicht vor dem Auswanderer hielt er an. Jacob sah eine Unzahl winziger Wassertropfen in seinem struppigen, roten Vollbart glitzern.
»Was wollen Sie schon wieder?« schrie der Treckführer gegen das Prasseln des Regens, das Knarren der Wagen und die anstachelnden Schreie der Fahrer an und stützte sich dabei so weit nach vorn aufs Sattelhorn, daß es aussah, als wollte er sich jeden Augenblick auf Jacob stürzen.