»Genau«, sagte Yeshe mit einem Anflug von Dankbarkeit.
Shan musterte ihn einen Moment lang, schlug dann den Block auf und begann zu schreiben. Ich habe Yeshe, den Bürogehilfen der zentralen Gefängnisverwaltung des Bezirks Lhadrung, vor dem heutigen Tag noch nie getroffen. Ich handle auf direkte Anweisung von Oberst Tan, dem Leiter des Bezirks Lhadrung. Er hielt inne und fügte dann hinzu: Ich bin tief beeindruckt, wie sehr Yeshe sich der sozialistischen Reform verpflichtet fühlt. Er versah die Notiz mit Unterschrift und Datum. Dann reichte er das Blatt dem nervösen Tibeter, der die Sätze mit ernster Miene las, das Stück Papier zusammenfaltete und in die Tasche steckte.
»Bloß für heute«, sagte Yeshe, als wolle er sich selbst beruhigen. »Mir werden immer nur Tagesaufträge zugewiesen.«
»Direktor Zhong wird auf eine solch wertvolle Hilfskraft gewiß nicht länger als ein paar Stunden verzichten wollen.«
Yeshe zögerte kurz, als würde Shans Sarkasmus ihn verwirren. Dann zuckte er die Achseln, nahm die Liste und wurde sofort ganz sachlich. »Die Ärztin«, sagte er. »Fragen Sie nicht nach der Ärztin. Rufen Sie das Büro des Krankenhausleiters an. Sagen Sie, Oberst Tan brauche den medizinischen Bericht. Der Leiter hat ein Faxgerät. Weisen Sie ihn an, das Dokument sofort zu faxen, und zwar nicht an Sie, sondern an die Sekretärin des Direktors. Der Direktor ist nicht da. Ich werde mit ihr sprechen.«
»Er ist nicht da?«
»Ein Fahrer vom Ministerium für Geologie hat ihn abgeholt.«
Da erinnerte Shan sich an den fremden Geländewagen, der ihm nach dem Fund der Leiche aufgefallen war. »Warum sollte das Ministerium für Geologie die Baustelle der 404ten aufsuchen?«
»Weil sie sich auf einem Berg befindet«, entgegnete Yeshe lakonisch.
»Bitte?«
»Das Ministerium ist für die Berge zuständig«, merkte Yeshe beiläufig an und musterte die Namenliste. »Leutnant Chang. Sein Tisch steht am anderen Ende des Flurs. Die Sanitäter, die den Leichnam von den Wachen übernommen haben. Ihre Aussagen dürften im Lager Jadefrühling zu bekommen sein«, sagte er.
»Ich brauche einen offiziellen Wetterbericht für vorgestern«, sagte Shan. »Und eine Liste der ausländischen Touristengruppen, die im Lauf des letzten Monats nach Tibet einreisen durften. Der Chinesische Reisedienst in Lhasa müßte über entsprechende Unterlagen verfügen. Und sagen Sie dem Sergeanten, daß wir nachher noch einmal in die Stadt fahren müssen.«
Fünf Minuten später brachte Yeshe ihm die ersten Berichte, die noch warm vom Faxgerät waren. Shan las sie schnell und fing an zu schreiben. Er war beinahe fertig, als draußen plötzlich eine laut heulende Sirene einsetzte. Shan hatte dieses Signal während all seiner Zeit bei der 404ten erst ein einziges Mal gehört. Es bedeutete, daß man Gewehre an die Wachen austeilen würde. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Choje hatte begonnen, Widerstand zu leisten.
Der Oberst musterte Shan argwöhnisch, als er eine Stunde später mit dem Bericht vor Tans Schreibtisch erschien. Dann nahm er die Unterlagen und las sie.
Das Gebäude schien annähernd leer zu sein. Nein, nicht nur leer, stellte Shan fest, sondern entvölkert, verlassen, so wie kleine Säugetiere ihren Schlafplatz aufgeben, sobald das Raubtier auftaucht, das an der Spitze der Nahrungskette steht. Der Wind ließ die Scheiben klirren. Draußen war eine Krähe zu sehen, die von einem Schwarm kleinerer Vögel attackiert wurde.
Oberst Tan blickte auf. »Du hast mir hier die untergeordneten Berichte gebracht. Aber die Form ist unvollständig.«
»Ihnen liegen alle direkten Tatsachen der Ermittlungen vor. Und die daraus zu ziehenden Schlüsse, soweit möglich. Das ist alles, was ich tun kann. Sie werden jetzt einige Entscheidungen treffen müssen.«
Tan verschränkte die Hände über den Blättern. »Es ist schon sehr lange her, daß jemand sich über meine Autorität lustig gemacht hat. Genaugenommen kann ich mich sogar an keinen einzigen Fall erinnern, seit ich den Bezirk übernommen habe. Nicht, seitdem mir das schwarze Siegel verliehen wurde.«
Shan starrte zu Boden. Das schwarze Siegel bedeutete die Vollmacht, Todesurteile zu unterzeichnen.
»Ich hatte auf mehr gehofft, Genosse. Ich bin davon ausgegangen, du würdest gründliche Arbeit leisten und die Gelegenheit nutzen wollen, die ich dir geboten habe.«
»Nach Prüfung der Sachlage schien es keinen Grund für weitere Verzögerungen zu geben«, sagte Shan.
Tan nahm den Bericht und las vor: »Am fünfzehnten des Monats wurde hundertfünfzig Meter oberhalb der Drachenschlundbrücke um 16.00 Uhr eine männliche Leiche gefunden. Das unbekannte Opfer trug einen Kaschmirpullover und teure westliche Bluejeans. Schwarze Körperbehaarung. Zwei Operationsnarben am Unterleib. Darüber hinaus keine weiteren eindeutigen Kennzeichen. Das Opfer ist bei Nacht einen gefährlichen Grat emporgestiegen und hat ein plötzliches Trauma im Nacken erlitten. Keine direkten Hinweise auf die Beteiligung dritter Personen. Da in der Region niemand als vermißt gemeldet wurde, stammte das Opfer wahrscheinlich nicht aus der Umgegend und war eventuell ausländischer Herkunft. Beiliegend der medizinische Bericht und die Aussage des Sicherheitsoffiziers.«
Er blätterte um. »Mögliche Erklärungen für die Ursache der Verletzung. Erstes Szenario. Opfer ist in der Dunkelheit auf den Felsen gestolpert und auf rasiermesserscharfen Quarz gefallen, dessen geologisches Vorkommen in der Region bekannt ist. Zweitens. Ist auf Werkzeug gestürzt, das von der Baubrigade vergessen wurde. Drittens. War nicht an Hochgebirgsluft gewöhnt, hat plötzlichen Anfall von Höhenkrankheit erlitten, ist ohnmächtig geworden und hat sich Verletzungen zugezogen, wie unter Punkt eins oder zwei beschrieben.« Tan hielt inne. »Kein Meteorit? Der Meteorit hat mir gefallen. Der hatte so einen gewissen buddhistischen Beigeschmack von Vorherbestimmung aus einer anderen Welt.«
Er faltete erneut die Hände. »Du hast es versäumt, mir Schlußfolgerungen zu liefern. Du hast es versäumt, das Opfer zu identifizieren. Du hast es versäumt, mir einen Bericht vorzulegen, den ich unterschreiben kann.«
»Das Opfer zu identifizieren?«
»Es ist ein wenig peinlich, Fremde im Leichenschauhaus liegen zu haben. Man könnte das fälschlich für eine Nachlässigkeit halten.«
»Aber genau aus diesem Grund dürfte das Ministerium Ihnen keine Scherereien bereiten. Man kann Ihnen doch nicht vorwerfen, daß seine Familie sich nicht meldet.«
»Eine wie auch immer geartete Identifizierung würde weniger Aufmerksamkeit erregen. Und wenn schon kein Name, dann ein Anlaß.«
»Ein Anlaß?«
»Ein Beruf. Eine Adresse. Zumindest ein Grund für seine Anwesenheit. Madame Ko hat die amerikanische Firma angerufen, von der die Karte stammt. Diese Leute verkaufen Röntgengeräte. Sagen wir also, er hat Röntgenapparate verkauft.«
Shan schaute auf seine Hände. »Das ist alles nur Spekulation.«
»Für manche ist es Spekulation, für andere eine Meinung.«
Shan blickte hinaus auf die Schatten, die sich langsam über die Hänge der Drachenklauen legten. »Falls ich Ihnen ein perfektes Szenario liefern könnte«, sagte er langsam und verachtete sich selbst mit jedem Wort mehr, »das auch dem Ministerium gefallen würde, dürfte ich dann zurück zu meiner Einheit?«
»Das hier ist kein Tauschhandel.« Oberst Tan dachte eine Weile nach und zuckte dann die Achseln. »Ich hatte keine Ahnung, daß Zwangsarbeit süchtig macht. Es wird mir ein Vergnügen sein, dich wieder dem Direktor zu überlassen, Genosse Häftling.«
»Der Mann war ein Kapitalist aus Taiwan.«
»Kein Amerikaner?«
Shan erwiderte Tans Blick. »Wie wird das Büro für Öffentliche Sicherheit Ihrer Meinung nach wohl auf das Wort Amerikaner reagieren?«
Tan hob eine Augenbraue und nickte beipflichtend.
»Also ein Taiwanese«, sagte Shan. »Das wird nicht nur das Geld und die Kleidung erklären, sondern auch, warum er reisen konnte, ohne bemerkt zu werden. Sagen wir mal, es handelt sich um einen früheren Kuomintang-Soldaten, der hier eingesetzt war und aus sentimentalen Gründen zurückgekehrt ist. Er ist mit einer Reisegruppe nach Lhasa gekommen, hat sich auf eigene Faust auf den Weg gemacht und ist unerlaubt nach Lhadrung gereist. Die Regierung kann für die Sicherheit einer solchen Person auf gar keinen Fall verantwortlich gemacht werden.«