Fowler hob den Kopf. »Woher willst du das wissen... was soll das alles bedeuten?« fragte sie.
»Der Bei Da-Verband«, sagte Shan. »Li, Wen, Hu, der Major. Mr. Kincaid war inoffizielles Mitglied.«
»Jemand muß endlich handeln, Rebecca«, schaltete Kincaid sich leidenschaftlich ein. »Du weißt das. Deshalb hilfst du ja auch der UN und Jansen. Tibet kann die Welt so viel lehren. Wir müssen reinen Tisch machen. Und wir haben schon große Fortschritte erzielt.«
»Fortschritte?« fragte Fowler. Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
»Jemand muß sich erheben«, erwiderte Kincaid. »Es muß geschehen. Niemand ist gegen Hitler aufgestanden. Niemand hat Stalin Widerstand geleistet, bevor es zu spät war. Aber hier ist es noch nicht zu spät. Hier können wir tatsächlich noch etwas bewirken. Der Lauf der Geschichte kann umgekehrt werden. Der Bei Da Verband weiß das. Die Verbrecher müssen ausgeschaltet werden.«
»Können Sie einen Verbrecher erkennen, Mr. Kincaid?« fragte Shan. Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich an Fowler. »Wird bei Ihnen zur Zeit eine Probenlieferung vorbereitet, die nächste Woche verschickt werden soll?«
»Ja«, sagte Fowler langsam. Sie war verwirrter als je zuvor.
»Sie muß aufgehalten werden. Vielleicht könnten Sie einen entsprechenden Anruf vornehmen.«
»Die Lieferung ist bereits versiegelt. Das ist wegen der Zollabfertigung erforderlich.«
»Sie muß aufgehalten werden«, wiederholte Shan.
Fowler ging zum Telefon, und wenige Minuten später hielt ein Wagen vor der Tür des Büros. Shan öffnete die Heckklappe des Transporters, während Kincaid und Fowler ihm von der Tür aus fragend zusahen.
»Die >Ich<-Generation«, sagte Shan beiläufig und nahm die Frachtkisten in Augenschein. »Das habe ich mal in einem amerikanischen Magazin gelesen. Diese Leute können auf gar nichts warten. Sie wollen alles sofort. Nur noch ein weiterer Mord, und sie hätten gewonnen. Nur noch der Oberst war übrig. Vielleicht wollten sie auch die Mine übernehmen. Ich glaube, die Außerkraftsetzung der Betriebserlaubnis war zum Teil eine Antwort auf das, was Kincaid mit Jao gemacht hatte: Man wollte in der Lage sein, Sie beide loswerden zu können, falls die Angelegenheit außer Kontrolle geriet. Wissen Sie noch, an welchem Tag Sie von dieser Maßnahme erfahren haben?« fragte er Fowler.
»Keine Ahnung. Es müßte jetzt zehn Tage oder zwei Wochen her sein.«
»Es war genau an dem Tag, nachdem wir Jaos Kopf gefunden hatten«, sagte Shan. Er sprach sehr langsam, um den Worten mehr Wirkung zu verleihen. »Als man feststellte, daß der Dämon ein wenig zu eigenmächtig handelte. Ich glaube nicht, daß man schon abschließend entschieden hatte, ob man Sie loswerden wollte. Man wollte sich bloß alle Optionen freihalten. Deshalb hat man auch die Computerdisketten als Köder ausgelegt und so getan, als gäbe es Ermittlungen in einem Spionagefall.«
»Tyler«, flehte Fowler. »Rede mit ihm. Sag ihm, daß du nicht weißt... «
»Niemand hat irgend etwas Falsches getan«, beharrte Kincaid. »Wir machen Geschichte. Dann kann ich nach Hause zurückkehren und uns die Aufmerksamkeit verschaffen, die wir benötigen. Ich werde sogar mit noch größeren Investitionen zurückkehren. Hundert Millionen, zweihundert Millionen. Eine Milliarde. Du wirst schon sehen, Rebecca. Du wirst mein Manager sein. Meine Verwaltungsleiterin. Du wirst alles verstehen.«
Fowler starrte ihn nur an.
Shan fing an, eine Kiste mit Proben der Lake auszupacken, die jeweils in zehn Zentimeter durchmessenden Metallzylindern untergebracht waren. »Irgend etwas hiervon wurde außerhalb angefertigt. Womöglich haben Sie es aus Hongkong bestellt. Vielleicht die Kisten.«
»Die Zylinder«, flüsterte Fowler kaum hörbar. »Die wurden vom Ministerium für Geologie hergestellt.«
Shan nickte. »Jao hat versucht, ein transportables Röntgengerät zu besorgen. Ich glaube, er wollte es herbringen, vielleicht auch zum Gelände des Bei Da-Verbands. Meiner Meinung nach hat er erwartet, etwas in den Terrakottastatuen zu finden, die der Verband verkaufen wollte, oder auch in den Holzkisten, die man zum Transport benutzt hat. Aber der Verband ist gerissener. Ich habe mich immer wieder gefragt, wieso man Ihre Transporttermine vorverlegt hat.« Er schraubte den Deckel von einem der Metallbehälter ab und schüttete die Lake aus. »Der Grund dafür konnte nur sein, daß man soviel wie möglich wegschaffen wollte, bevor die zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen wegen der amerikanischen Touristen in Kraft treten würden.«
Er wußte nicht genau, wonach er suchte, aber er maß die Tiefe des Innenbehälters mit Hilfe eines langen Schraubenziehers aus dem Wagen. Das Werkzeug ragte kaum über den Rand hinaus. Er hielt es außen an den Zylinder. Bis zum Boden fehlten fünfzehn Zentimeter. Er nahm das Behältnis genau in Augenschein und entdeckte schließlich eine Naht, eine fast unsichtbare Naht. Vergeblich versuchte er, das untere Teil abzuschrauben. Fowler rief nach zwei großen Rohrzangen. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das untere Fach loszubekommen, indem sie die beiden Teile des Behälters in entgegengesetzte Richtungen drehten. Im Innern befand sich eine dunkelbraune, scharf riechende Paste.
»Das hier«, verkündete Shan mit einem Nicken in Tans Richtung, der dreißig Meter entfernt von ihnen die Arbeiten leitete, »wird aus dem Oberst einen Helden machen. Ein Mord ist bloß ein Mord. Aber Drogenschmuggel ist ein Angriff auf den Staat.«
Fowler war kreidebleich. Kincaid stolperte vor. Er packte einen anderen Zylinder und öffnete ihn genauso wie Shan zuvor, dann einen dritten. Als er beim vierten angekommen war, begann er zu zittern. Er steckte die Hand hinein und zog sie wieder heraus. Sie war von der dickflüssigen Schmiere überzogen. »Diese Schweine«, stöhnte er. »Diese gierigen kleinen Scheißkerle.«
»Wie ich schon sagte, Sie waren der einzige, der sowohl zum Bei Da-Verband als auch zu einem Vertrauten der purbas gute Kontakte unterhielt.« Shans Hand legte sich auf die khata des Amerikaners, die er noch immer um den Hals trug, und zog sie herunter. »Der Verband fütterte Sie mit Informationen über die Opfer, und Sie haben das Material an Jansen weitergereicht. Jansen kannte die purbas, also gab er es ihnen, und es wurde im Lotusbuch festgehalten. Doch es war nicht für das Buch gedacht. Es war an Sie gerichtet, denn man wußte, daß Sie an das glauben mußten, was Sie taten. Sie hätten sich nicht dazu bereit erklärt, wenn es Ihrer Ansicht nach bloß um das berufliche Fortkommen der anderen gegangen wäre. Nein, Sie haben es getan, um zu bestrafen. Sie haben es für Ihre Sache getan. Nur bei Ankläger Jao sind Sie zu weit gegangen. Vermutlich war es einfach, die anderen davon zu überzeugen, ihn zur Südklaue zu locken. Falls der Mord an Jao auf der Straße der 404ten die tibetischen Häftlinge zu einer Reaktion verleitete und daraufhin die Kriecher anrückten, würde ja immer noch Ihr Freund der Major da sein und alles unter Kontrolle haben, so daß er einerseits die Vorschriften befolgen konnte und andererseits den Tibetern keinen wirklichen Nachteil zufügen würde, richtig? Aber der Schädelschrein. Das hat die anderen aufgeregt, denn ein Großteil des Goldes wanderte in ihre eigenen Taschen. Was Sie mit dem Kopf getan haben, drohte sich nachteilig auf die Goldgewinnung auszuwirken. Man mußte Sie maßregeln. Vielleicht kam man auch zu dem Schluß, daß Sie nicht länger benötigt wurden. Also ist jemand zu dem Versteck gegangen und hat das Kostüm beschädigt, und dann wurde die Betriebserlaubnis aufgehoben. Und als Sie versucht haben, zurück zu dem Kostüm zu gelangen, waren da auf einmal Wachhunde. Denen haben Sie auch den Biß in den Arm zu verdanken. Keine Schnittwunde von den Felsen. Ein Hundebiß.« Er ließ die khata neben Kincaid zu Boden fallen und sah Fowler an. Wie hatte sie Kincaid genannt? Die verlorene Seele, die ein Nest gefunden hatte.