»Wir werden den Bericht unter meinem Namen einreichen.«
Shan starrte einen undeutlichen, vage vertrauten Geist an sein eigenes Abbild, das sich im Fenster spiegelte. Es geschah tatsächlich. Er wurde als niedere Lebensform wiedergeboren. »Dann wird einer unserer Namen entehrt werden«, flüsterte er krächzend.
Kapitel 3
Das gelbgraue dreigeschossige Gebäude, in dem das Gesundheitskollektiv des Volkes untergebracht war, wirkte von außen weitaus steriler als von innen. In der Eingangshalle roch es nach Schimmel. Das Gemälde auf einer der Wände, das strahlende Proletarier auf Bulldozern und Traktoren zeigte, war rissig und blätterte ab. Auf dem Mobiliar lag der gleiche trockene Staub, der auch in den Baracken der 404ten vorherrschte. Der verblichene Linoleumboden und eine Wand waren von braunen und grünen Flecken übersät. Das einzige Lebewesen, das sie bei ihrem Eintreten bemerkten, war ein großer Käfer, der hastig in den Schatten huschte.
Madame Ko hatte angerufen. Ein kleiner, nervöser Mann in einem schäbigen Kittel erschien und führte Shan, Yeshe und Feng schweigend über eine schwach beleuchtete Treppe in einen Kellerraum hinunter, in dem sich fünf metallene Obduktionstische befanden. Als er die Schwingtüren aufstieß, brach der Ammoniak- und Formaldehydgestank wie eine Woge über ihren Köpfen zusammen. Der Geruch des Todes.
Yeshe hielt sich blitzartig die Hand vor den Mund. Sergeant Feng fluchte und suchte nach einer Zigarette. Die Wände waren mit den gleichen dunklen Flecken gesprenkelt, die Shan bereits im Erdgeschoß bemerkt hatte. Er folgte einer der Tropfspuren mit den Augen, einer Reihe brauner Spritzer, die vom Boden bis zur Decke verlief. An einer der Wände hing ein Plakat, das vom häufigen Falten ziemlich brüchig geworden war, und warb für eine Aufführung der Pekinger Oper. Das Datum lag bereits mehrere Jahre zurück. Mit einer Mischung aus Ekel und Angst wies ihr Begleiter auf den einzigen belegten Tisch. Dann verließ er den Raum und schloß die Tür hinter sich.
Yeshe drehte sich um und wollte dem Sanitäter folgen.
»Was ist los?« fragte Shan.
»Mir wird schlecht«, verteidigte Yeshe sich.
»Wir haben einen Auftrag. Sie werden ihn kaum erledigen können, falls Sie draußen auf dem Gang warten.«
Yeshe schaute zu Boden.
»Wo möchten Sie hin?« fragte Shan.
»Hin?«
»Im Anschluß. Sie sind jung. Sie sind ehrgeizig. Sie haben ein Ziel. Jeder in Ihrem Alter hat ein Ziel.«
»In die Provinz Sichuan«, sagte Yeshe mit argwöhnischem Blick. »Zurück nach Chengdu. Direktor Zhong hat mir gesagt, meine Papiere seien bereits fertig und er habe mir dort eine Anstellung verschafft. Die Leute können inzwischen eigene Wohnungen mieten. Man kann sogar Fernsehgeräte kaufen.«
Shan dachte kurz nach. »Wann hat der Direktor das gesagt?«
»Erst gestern abend. Ich habe noch immer Freunde in Chengdu. Parteimitglieder.«
»Großartig.« Shan zuckte die Achseln. »Sie haben ein Ziel, und ich habe ein Ziel. Je schneller wir fertig werden, desto eher geht es für uns beide weiter.«
Yeshe war der Unmut trotzdem deutlich anzusehen. Er betätigte einen Schalter an der Wand und erweckte eine Reihe nackter Glühlampen zum Leben, die über den Tischen hingen. Der mittlere Tisch schien regelrecht zu erstrahlen, denn sein weißes Laken war das einzige saubere und helle Objekt an diesem Ort. Sergeant Feng schaute auf das entlegene Ende des Raums und murmelte einen leisen Fluch. Unter einem besudelten Leintuch saß dort in einem rostigen Rollstuhl ein zusammengesackter Körper, dessen Kopf in unnatürlichem Winkel zur Seite hing.
»Die schieben dich einfach so in die Ecke«, brummte er verächtlich. »Da lobe ich mir die Armeehospitäler. Dort wirst du zumindest ordentlich in deiner Uniform aufgebahrt.«
Shan musterte noch einmal die Blutflecke. Das hier sollte doch eigentlich das Leichenschauhaus sein. Leichen hatten keinen Blutdruck mehr und konnten daher auch kein Blut verspritzen.
Der Körper auf dem Stuhl ächzte plötzlich, als hätte das Licht ihn zum Leben erweckt. Mit ungelenker Geste zog er das Leintuch beiseite und setzte sich eine dicke Hornbrille auf.
Feng keuchte erschrocken und wich zur Tür zurück.
Es handelte sich um eine Frau, erkannte Shan, und es war nicht etwa ein Leintuch, das sie bedeckte, sondern ein viel zu großer Kittel, aus dessen Falten sie ein Klemmbrett hervorholte.
»Wir haben doch den Bericht geschickt«, verkündete sie mit schriller, ungehaltener Stimme und stand auf. »Niemand hier begreift, weshalb Sie persönlich vorbeikommen mußten.« Dunkle Ringe um ihre Augen zeugten von tiefer Erschöpfung. Mit der rechten Hand hielt sie einen Bleistift wie einen Speer umklammert. »Manche Leute schauen sich gern Tote an. Ist es das? Mögen Sie es, Leichen anzustarren?«
Das Leben eines Mannes, so lehrte Choje seine Mönche, verlief nicht in linearer Progression, bei der jeder Tag ein gleichwertiges Blatt auf dem Kalender der Existenz bedeutet hätte. Es bewegte sich eher von einem maßgeblichen Moment zum nächsten und wurde durch jene Entscheidungen geprägt, die Auswirkungen auf die Seele hatten. Das hier war ein solcher Moment, dachte Shan. Er konnte entweder ab jetzt sofort für Tan den Schnüffler spielen und irgendwie versuchen, die 404te zu retten, oder er konnte sich um drehen, wie Choje dies befürworten würde, und Tan ignorieren, um allem treu zu bleiben, das auf dieser Welt auch nur entfernt als rechtschaffen galt. Er biß die Zähne zusammen und wandte sich an die kleine Frau.
»Wir müssen mit der Ärztin sprechen, von der die Autopsie vorgenommen wurde«, sagte Shan. »Dr. Sung.«
Die Frau brach in unerklärliches Gelächter aus. Aus einer anderen Falte ihres Kittels zog sie eine koujiao hervor, eine jener Operationsmasken, die ein Großteil der chinesischen Bevölkerung dazu benutzte, um sich während der Wintermonate vor Staub und Viren zu schützen. »Andere Leute. Andere Leute verursachen gern Schwierigkeiten.« Sie band sich die Maske vor den Mund und deutete auf einen Karton voller kiajiou, der auf dem nächstgelegenen Tisch stand. Beim Gehen wurde ein baumelndes Stethoskop zwischen den Falten des Kittels sichtbar.
Noch war es nicht zu spät. Noch gab es eine schmale Öffnung, durch die er sich hinauswinden könnte. Er mußte erreichen, daß die Ärztin den Unfallbericht unterschrieb. Ein durch die 404te verursachter Unfall würde Tans Zwecken genügen, ohne die Höllenqualen einer Morduntersuchung nach sich zu ziehen. Nach dieser Unterschrift mußte er eine Möglichkeit finden, daß die Todesriten für die verlorene Seele abgehalten werden konnten. Als Reaktion auf das politische Dilemma würde man die 404te für fahrlässiges Verhalten maßregeln können. Ein Monat ohne warme Verpflegung und vielleicht eine Herabsetzung aller Gefangenen. Bald würde Sommer sein; sogar die Alten konnten eine Herabsetzung überleben. Das war zwar keine perfekte Lösung, aber sie lag für ihn immerhin in Reichweite.
Während die Männer ihre Masken festbanden, zog die Ärztin das Tuch von der Leiche und nahm ein Klemmbrett vom Tisch.
»Der Tod ist fünfzehn bis zwanzig Stunden vor der Auffindung eingetreten, also am Abend zuvor«, las sie. »Todesursache: die gleichzeitige traumatische Durchtrennung von Halsschlagader, Drosselvene und Rückenmark. Zwischen dem obersten Halswirbel und dem Hinterhauptsbein.« Bei diesen Worten ließ sie ihren Blick über die drei Männer schweifen. Yeshe fiel als erster durch ihr Raster, denn er war unverkennbar tibetischer Abstammung. Dann musterte sie kurz Shans abgetragene Kleidung und entschied sich schließlich, Sergeant Feng anzusprechen.