»Keine Ahnung. Durch die Vögel.«
»Die fliegen nachts nicht. Und ich habe noch keinen Geier gesehen, der groß genug gewesen wäre, um einen Schädel wegzuschleppen.« Sie zog ein Stück Papier vom Klemmbrett. »Sie müssen der Narr gewesen sein, der mir das hier geschickt hat«, sagte sie. Es war das Unfallberichtsformular, das auf ihre Unterschrift wartete.
»Der Oberst würde es gern sehen, wenn Sie das einfach nur unterzeichneten.«
»Ich arbeite nicht für den Oberst.«
»Das habe ich auch zu ihm gesagt.«
»Und?«
»Bei einem Mann wie dem Oberst ist das ein eher heikler Punkt.«
Sung warf ihm einen letzten wütenden, beinahe aggressiven Blick zu und riß das Formular dann schweigend in der Mitte durch. »Und wie heikel ist das?« Sie ließ die Stücke auf die nackte Leiche fallen und verließ den Raum.
Jilin der Mörder war offenbar stolz darauf, zum neuen Vorarbeiter der 404ten ernannt worden zu sein. Er ragte wie ein Riese drohend an der Spitze der Kolonne auf und hieb mit seinem Vorschlaghammer auf die Felsen ein. Hin und wieder hielt er kurz inne und wandte sich mit hämischem Gesichtsausdruck zu den kleinen Gruppen tibetischer Häftlinge um, die unterhalb von ihm auf dem Hang saßen. Shan musterte die anderen, ein Dutzend Chinesen und moslemische Uiguren, die normalerweise nicht zu den Bauarbeitern gehörten. Zhong hatte das Küchenpersonal zur Südklaue geschickt.
Shan entdeckte Choje, der kurz vor der Spitze im Lotussitz mit geschlossenen Augen im Zentrum eines Kreises aus Mönchen saß. Beabsichtigt war, Choje vor den drohenden Übergriffen der Wachen zu schützen. Letzten Endes würde es nur dazu führen, daß die Wachen noch viel wütender waren, wenn sie ihn erreichten.
Momentan allerdings saßen die Wachposten um die Lastwagen herum, rauchten und tranken Tee, den sie sich über einem offenen Holzfeuer kochten. Sie behielten nicht etwa die Häftlinge im Blick, sondern richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Straße, die aus dem Tal hinaufführte.
Jilins fröhliche Miene verschwand, als er Shan sah. »Es heißt, du seist jetzt ein Kalfaktor«, sagte er verärgert und verlieh dem Satz mit einem Schlag des Hammers Nachdruck.
»Nur für ein paar Tage. Ich komme zurück.«
»Du verpaßt ja alles. Dreifache Rationen, wenn du arbeitest. Die werden den verdammten Heuschrecken die Flügel stutzen. Der Stall wird aus allen Nähten platzen. Wir werden Helden sein.« Heuschrecken. Eine verächtliche Bezeichnung für die tibetischen Einheimischen. Wegen des eintönig summenden Geräusches ihrer Mantras.
Shan musterte die vier kleinen Steinhaufen, mit denen man den Fundort der Leiche markiert hatte. Langsam umrundete er die Stelle und fertigte auf seinem Block eine Zeichnung davon an.
Sung hatte recht. Genau hier war es passiert. Hier hatte der Mörder sein Opfer abgeschlachtet. Er hatte den Mann getötet und den Inhalt seiner Taschen über den Rand der Klippe geworfen. Aber wieso hatte er die Hemdtasche unter dem Pullover ausgelassen, in der das amerikanische Geld steckte? Weil seine Hände so blutig waren und das weiße Hemd so sauber, beantwortete Shan sich die Frage.
»Warum ist er erst den langen Weg aus der Stadt hergekommen und hat dann die Leiche nicht in den Abgrund geworfen? Man hätte sie nie gefunden.« Die Frage kam von hinten. Yeshe war Shan den Abhang hinaufgefolgt. Das war das erste Mal, daß der Tibeter Interesse an ihrem Auftrag erkennen ließ.
»Die Leiche sollte gefunden werden.« Shan kniete sich hin und schob die restlichen Steine von dem rostfarbenen Fleck.
»Weshalb dann Steine darüber aufschichten?«
Shan drehte sich um und sah erst zu Yeshe und dann zu den Mönchen, die ihn inzwischen nervös beobachteten. Jungpos kamen nur nachts heraus. Am Tag jedoch versteckten die hungrigen Geister sich in kleinen Felsspalten oder unter Steinen.
»Ansonsten hätten die Wachen den Toten vielleicht schon aus einiger Entfernung bemerkt.«
»Aber sie haben ihn doch trotzdem entdeckt«, wandte Yeshe ein.
»Nein. Zuerst haben ihn die Häftlinge gefunden. Die Tibeter.«
Shan ließ den beunruhigten Yeshe neben den Steinhaufen stehen und ging zu Jilin. »Ich brauche deine Hilfe. Du sollst mich über die Kante hinablassen.«
Jilin ließ den Hammer sinken. »Du hast wohl den Verstand verloren.«
Shan wiederholte die Bitte. »Nur für ein paar Sekunden. Da drüben.« Er wies mit ausgestrecktem Finger in die Richtung. »Halt mich an den Knöcheln fest.«
Jilin folgte Shan gemächlich zur Kante und grinste einfältig. »Hundertfünfzig Meter. Jede Menge Zeit zum Nachdenken, bevor du aufschlägst. Und dann ergeht es dir wie einer Melone, die man mit einer Kanone abgeschossen hat.«
»Nur ein paar Sekunden, dann holst du mich wieder hoch.«
»Warum?«
»Wegen des Goldes.«
»Blödsinn«, stieß Jilin hervor. Dann allerdings beugte er sich mit einem mißtrauischen Seitenblick über den Rand. »Verdammt«, sagte er und schaute überrascht auf. »Verdammt«, wiederholte er, kam aber sogleich auf einen anderen Gedanken. »Ich brauche dich nicht.«
»Doch, du brauchst mich. Du kannst es von hier oben nicht erreichen. Wem vertraust du so weit, daß er dich festhalten soll?«
Jilin schien plötzlich zu verstehen. »Und warum vertraust du mir?«
»Weil ich dir das Gold geben werde. Ich schaue es mir genau an, und dann gebe ich es dir.« Das einzig Verläßliche an Jilin war seine Habgier.
Kurz darauf hing Shan kopfüber an seinen Knöcheln über dem Abgrund. Sein Bleistift fiel ihm aus der Tasche und stürzte wirbelnd ins Leere. Er schloß die Augen, als der lachende Jilin ihn wie die Marionette eines Kindes ruckartig auf und ab hüpfen ließ. Aber als er sie wieder öffnete, lag das Feuerzeug direkt vor ihm.
Einen Moment später befand er sich wieder oben. Das Feuerzeug stammte aus westlicher Fertigung, war jedoch mit einem eingravierten chinesischen Ideogramm verziert, das für ein langes Leben stand. Shan hatte solche Feuerzeuge schon zuvor gesehen; sie wurden oft bei Parteitreffen als Andenken verschenkt. Er hauchte es an, so daß die Oberfläche beschlug. Keine Fingerabdrücke.
»Gib es mir«, knurrte Jilin. Er behielt die Wachen im Auge.
Shan schloß die Finger darum. »Sicher. Im Tausch gegen etwas anderes.«
Jilins Blick flammte wütend auf. Er hob die Faust. »Ich reiß dich in Stücke.«
»Du hast dem Toten etwas abgenommen. Er hatte es in der Hand. Das will ich haben.«
Jilin schien darüber nachzudenken, ob ihm genug Zeit bleiben würde, das Feuerzeug zu schnappen, wenn er Shan über die Kante stieß.
Shan trat aus seiner Reichweite. »Ich glaube nicht, daß es wertvoll war«, sagte Shan. »Dies hier hingegen..« Er entzündete die Flamme. »Schau nur!« Er hob das Feuerzeug und erhöhte dadurch das Risiko, daß die Wachen es bemerkten.
Jilin griff unverzüglich in seine Tasche und holte eine kleine Scheibe aus mattiertem Metall hervor. Er ließ sie in Shans Handfläche fallen und griff nach dem Feuerzeug. Shan hielt es fest. »Eine Frage noch.«
Jilin knurrte wütend und schaute den Abhang hinunter. So gern er Shan jetzt auch zerquetschen würde, das leiseste Anzeichen eines Kampfes würde die Wachen auf den Plan rufen.
»Deine professionelle Meinung.«
»Professionell?«
»Als Mörder.«
Jilins Brust schwoll vor Stolz. Auch sein Leben hatte maßgebliche Momente. Sein Griff lockerte sich.
»Warum hier?« fragte Shan. »Warum so weit außerhalb der Stadt, um dann die Leiche so auffällig zurückzulassen?«
Eine beunruhigende Sehnsucht zeichnete sich auf Jilins Gesicht ab. »Das Publikum.«
»Publikum?«
»Jemand hat mir einmal von einem Baum erzählt, der in den Bergen umstürzt. Er verursacht kein Geräusch, wenn niemand da ist, der ihn hört. Ein Mord, den niemand zu würdigen weiß? Was hätte der für einen Sinn? Ein guter Mord braucht ein Publikum.«