»Die meisten Mörder, die ich kenne, bevorzugen die Abgeschiedenheit.«
»Ich meine nicht Zeugen, sondern diejenigen, von denen die Tat entdeckt wird. Ohne Publikum kann es kein Verzeihen geben.« Er sagte die Worte sorgfältig auf, als hätte man sie ihm während der tamzing-Sitzungen eingetrichtert.
Er hatte recht, erkannte Shan. Die Leiche war deswegen von den Häftlingen entdeckt worden, weil der Mörder genau das beabsichtigt hatte. Er hielt inne und sah Jilin in die wild funkelnden Augen. Dann ließ er das Feuerzeug los und musterte die Scheibe. Sie war nach außen gewölbt und maß fünf Zentimeter im Durchmesser. Kleine Schlitze am oberen und unteren Rand deuteten darauf hin, daß hier ein Riemen eingefädelt werden sollte und die Scheibe daher als Verzierung gedacht war. Am Rand verlief eine tibetische Inschrift, deren altertümliche Buchstaben Shan nicht entziffern konnte. In der Mitte befand sich das stilisierte Abbild eines Pferdekopfes. Der Kopf hatte Fangzähne.
Als Shan sich Choje näherte, tat sich in dem schützenden Kreis ein Lücke für ihn auf. Er war sich nicht sicher, ob er warten sollte, bis der Lama seine Meditation beendet hatte. Aber als Shan neben ihm Platz nahm, öffnete Choje die Augen.
»Im Fall eines Streiks gibt es ein ganz bestimmtes Verfahren, Rinpoche«, sagte Shan leise. »Aus Peking. Es ist in einem Buch niedergeschrieben. Streikende erhalten die Gelegenheit, zu bereuen und ihre Bestrafung zu akzeptieren. Andernfalls wird man versuchen, alle auszuhungern. An den Führern werden Exempel statuiert. Nach einer Woche kann der Streik eines lao gai-Gefangenen zum Kapitalverbrechen erklärt werden. Falls man gerade in großzügiger Stimmung ist, wird man jede der Haftstrafen einfach nur um zehn Jahre verlängern.«
»Peking wird tun, was es tun muß«, lautete die erwartete Antwort. »Und wir werden tun, was wir tun müssen.«
Shan musterte die Männer schweigend. Sie wirkten nicht ängstlich, sondern stolz. Er deutete auf die Wachen unterhalb des Hangs. »Ihr wißt, worauf die Wachposten warten.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Vermutlich sind sie bereits unterwegs. So nah an der Grenze wird es nicht lange dauern.«
Choje zuckte die Achseln. »Solche Leute warten immer auf irgend etwas.« Einige der Mönche, die dicht in ihrer Nähe standen, lachten leise.
Shan seufzte. »Der Tote hatte das hier in der Hand.« Er reichte Choje das Medaillon. »Ich glaube, er hat es seinem Mörder abgerissen.«
Als Chojes Augen sich auf die Scheibe richteten, blitzten sie wissend auf. Dann verhärtete sich sein Blick. Er fuhr mit dem Finger über die Inschrift, nickte und gab den Anhänger an die Mönche weiter. Laute des Erstaunens ertönten. Die Männer reichten die Scheibe im Kreis herum und ließen sie nicht mehr aus den Augen.
Shan wußte, daß zwischen Mörder und Opfer kein wirklicher Kampf stattgefunden hatte. In diesem Punkt hatte Dr. Sung recht. Aber es hatte einen Moment gegeben, vielleicht nur einen winzigen Augenblick der Erkenntnis, in dem das Opfer den Täter erst gesehen und dann berührt hatte. Als es bewußtlos geschlagen wurde, streckte es die Hand aus und packte die Scheibe.
»Es hat Gerüchte über ihn gegeben«, sagte Choje. »Oben, im Hochgebirge. Ich war mir nicht sicher. Manche haben behauptet, er hätte uns im Stich gelassen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Früher waren sie oft unter uns.« Die Augen des Lama blieben auf die Scheibe gerichtet. »Als die dunklen Jahre kamen, haben sie sich tief in die Berge zurückgezogen. Aber die Leute sagten, sie würden eines Tages zurückkehren.«
Choje schaute wieder zu Shan. »Tamdin. Das Medaillon stammt von Tamdin. Man nennt ihn den Pferdeköpfigen. Er ist einer der Geisterbeschützer.« Choje hielt inne, rezitierte einige Mantras und ließ dabei die Perlen seiner Gebetskette durch die Finger gleiten. Dann blickte er verwundert auf. »Dieser Mann ohne Kopf. Er wurde von einem unserer Schutzdämonen geholt.«
In diesem Moment tauchte Yeshe am Rand des Kreises auf. Verlegen musterte er die Mönche, als sei er peinlich berührt oder gar verängstigt. Er schien nicht gewillt oder in der Lage zu sein, den Kreis zu betreten. »Man hat etwas gefunden«, rief er, seltsamerweise außer Atem. »Der Oberst wartet an der Kreuzung.«
Eine der ersten Straßen, die von der 404ten gebaut worden waren, zog sich rund um das Tal und verband die alten Pfade miteinander, die zwischen den hohen Kämmen aus dem Gebirge herführten. Die Straße, auf der die beiden Fahrzeuge nun hinauf in die Drachenklauen fuhren, war einst einer dieser Pfade gewesen und noch immer so unwirtlich, daß sie zu einem Flußbett wurde, wenn im Frühling das Tauwetter hereinbrach. Zwanzig Minuten nachdem sie das Tal verlassen hatten, bog Tans Wagen auf einen unbefestigten Weg ein, der unlängst von einem Bulldozer angelegt worden war. Sie erreichten ein kleines einsames Plateau. Shan musterte den hochgelegenen windumtosten Kessel durch die Scheibe. Auf seinem Grund entsprang dicht neben einer einzelnen riesigen Zeder eine kleine Quelle. Nach Norden hin war das Plateau geschlossen. Im Süden öffnete es sich und gab den Blick auf achtzig Kilometer schroffe Berge frei. Für einen Tibeter wäre dies ein Ort der Macht, an dem vielleicht ein Dämon hauste.
Als Feng den Wagen abbremste, kam ein langer Schuppen mit einem übergroßen Schornstein in Sicht. Man hatte ihn erst kürzlich errichtet und dazu Sperrholzplatten aus irgendeinem anderen Gebäude verwendet. Auf den Wänden waren als Überbleibsel der früheren Benutzung die Reste aufgemalter Ideogramme zu sehen, so daß die Hütte wie ein Puzzle aus nicht zusammengehörigen Teilen wirkte. Hinter dem Gebäude standen mehrere vierrädrige Fahrzeuge und ein halbes Dutzend Offiziere. Die Männer nahmen Haltung an, als Tan aus seinem Wagen stieg.
Der Oberst beriet sich kurz mit den Soldaten und winkte Shan zu sich heran, während er hinter dem Schuppen verschwand. Yeshe und Feng stiegen ebenfalls aus und wollten Shan folgen. Einer der Offiziere schaute alarmiert auf und befahl ihnen, zurück in den Wagen zu klettern.
Sechs Meter hinter der Hütte befand sich ein Höhleneingang, an dessen Rändern irische Meißelspuren zu sehen waren. Man hatte ihn vor kurzem erweitert. Einige der Offiziere steuerten in einer Reihe auf die Höhle zu. Tan brüllte einen Befehl, woraufhin sie innehielten, um zwei grimmig blickenden Soldaten Platz zu machen, die auf Anweisung des Obersts mit elektrischen Lampen vorangingen. Shan folgte Tan und den beiden Soldaten in die Höhle, während die anderen Männer zurückblieben und ihnen nervös flüsternd hinterherschauten.
Die ersten dreißig Meter bestanden aus einem engen, gewundenen Tunnel, in dem zahllose Hinterlassenschaften darauf hindeuteten, daß er einigen Raubtieren als Unterschlupf gedient hatte. Man hatte die Abfälle beiseite geschoben, um Platz für die Karren zu schaffen, deren Radspuren in der Mitte des Pfads zu sehen waren. Dann öffnete der Gang sich in eine sehr viel größere Kammer. Tan blieb so abrupt stehen, daß Shan beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre.
Jahrhunderte zuvor hatte man die Wände verputzt und mit den Gemälden riesiger Kreaturen versehen. Als Shan die Bilder anstarrte, verspürte er einen Stich im Herzen. Es lag nicht an dem Gefühl der Entweihung, weil Tan und seine Hunde hier waren. Shans gesamtes Leben hatte aus einer Vielzahl solcher Übertretungen bestanden. Es lag auch nicht an den furchterregenden Abbildungen der Dämonen, die in den zitternden Lichtkegeln der von den Soldaten gehaltenen Scheinwerfer vor ihren Augen zu tanzen schienen. Solche Ängste waren gar nichts im Vergleich zu den Schrecken, die Shan in der 404ten kennengelernt hatte.
Nein. Es lag an der Art und Weise, wie diese alten Gemälde Shan Ehrfurcht einflößten, wie sie ihn mit Scham erfüllten und ihn sich danach sehnen ließen, bei Choje zu sein. Sie waren so bedeutend, und er war so klein. Sie waren so schön, und er war so abstoßend. Sie waren so perfekt tibetisch, und er war so perfekt gar nichts.
Die Männer gingen näher heran, bis etwa fünfzehn Meter der Wand in Licht getaucht waren. Als die satten, vollen Farbtöne deutlicher hervortraten, begann Shan, die Bilder wiederzuerkennen. In der Mitte befanden sich vier sitzende Buddhas, nahezu in Lebensgröße. Zunächst der Gelbe Juwelgeborene Buddha, dessen linke Hand in einer gebenden Geste geöffnet war. Dann der Rote Buddha des Grenzenlosen Lichts, der auf einem außerordentlich detailliert gestalteten Pfauenthron saß. Daneben befand sich der Grüne Buddha, der in der Linken ein Schwert hielt und die Rechte mit der Handfläche nach außen erhoben hatte, dem mudra, dem Symbol zur Vertreibung der Angst. Und schließlich gab es noch eine blaue Gestalt, den Unerschütterlichen Buddha, wie Choje ihn nannte, auf dessen Thron Elefanten gemalt waren und dessen rechte Hand nach unten wies und das erdberührende mudra formte. Es war ein mudra, das Choje oftmals den neuen Gefangenen beibrachte und das die Erde zur Bezeugung ihres Glaubens anrief.