»Götzenverehrung stellt einen Angriff auf die sozialistische Ordnung dar«, dröhnte die Stimme eines jungen Offiziers aus dem Megaphon, als die Gefangenen auf eine Reihe klappriger grauer Mannschaftstransporter zumarschierten, die schon seit Jahren nicht mehr im Dienst der Armee standen. »Jedes Gebet ist ein Schlag gegen das Volk.«
ZERREIßT DIE KETTEN DES FEUDALISMUS, wettete Shan im stillen mit sich selbst, oder DIE VEREHRUNG DER VERGANGENHEIT BEDEUTET RÜCKSCHRITT
»Der Drache hat gegessen«, rief jemand aus den Reihen der Sträflinge.
Der Ton einer Signalpfeife ließ ihn verstummen.
»Ihr habt das Soll nicht erfüllt«, setzte der Politoffizier mit schriller Stimme seine Ansprache fort. Hinter ihm stand ein roter Geländewagen, den Shan noch nie zuvor an der Baustelle gesehen hatte. MINISTERIUM FÜR GEOLOGIE stand auf der Tür. »Ihr habt das Volk beschämt. Man wird euch Oberst Tan melden.« Die elektrisch verstärkten Worte des Offiziers hallten vom Hang wider. Was hatte das Ministerium für Geologie hier verloren? fragte sich Shan. »Die Besuchserlaubnis wird vorerst aufgehoben. Während der nächsten beiden Wochen gibt es keinen heißen Tee. Zerreißt die Ketten des Feudalismus. Erfahrt den Willen des Volkes.«
»Leck mich am Arsch«, murmelte eine unbekannte Stimme hinter Shan. »Schon wieder lao gai-Kaffee.« Der Mann stolperte gegen ihn, als sie darauf warteten, auf die Ladefläche des Transporters zu steigen.
Shan drehte sich um. Das Gesicht war neu in dem Arbeitstrupp. Es gehörte einem jungen Tibeter, dessen kleine knorrige Gestalt ihn als khampa auswies, als einen Angehörigen der Hirtenstämme des Hochplateaus von Kham im Osten.
Als der Mann ihn sah, verhärtete sich sogleich seine Miene. »Wissen Euer Hoheit, was lao gai-Kaffee ist?« knurrte er. Seine wenigen verbliebenen Zähne waren schwarz vor Fäulnis. »Ein Löffel guter tibetischer Dreck. Und ein halber Becher Pisse.«
Der Mann setzte sich gegenüber von Shan auf die Bank und musterte ihn. Shan klappte seinen Hemdkragen hoch, denn die zerlumpte Plane über dem Stauraum des Wagens bedeutete kaum einen Schutz vor dem Wind, und erwiderte den Blick, ohne zu blinzeln. Er hatte gelernt, daß das Überleben einzig und allein davon abhing, wie man mit der eigenen Angst umgehen konnte. Die Angst mochte einem schwer wie ein Stein im Magen liegen. Vielleicht verbrannte sie einem das Herz, bis man merkte, daß sogar die eigene Seele zu schwelen anfing. Aber man durfte sich niemals etwas davon anmerken lassen.
Shan war zu einem Fachmann der Angst geworden. Er hatte gelernt, ihre mannigfaltige Beschaffenheit und ihre physischen Reaktionen deutlich zu erkennen. Es bestand zum Beispiel ein großer Unterschied zwischen der Angst vor den Schritten des Folterers und der Angst vor einer Lawine, die auf eine benachbarte Arbeitsgruppe niederging. Und all das war nichts im Vergleich zu der Angst, die ihn nächtelang wachhielt, wenn er sein Miasma aus Erschöpfung und Schmerz durchlebte und befürchtete, das Gesicht seines Vaters zu vergessen. Schon ganz am Anfang, während der verschwommenen Mischung aus Spritzen und politischer Therapie, hatte er begriffen, wie wertvoll die Angst sein konnte. Manchmal war nur noch die Angst real gewesen.
Am Hals hatte der khampa tiefe Narben, die von einer Klinge stammten. Als er das Wort ergriff, verzog er kalt und verächtlich den Mund. »Oberst Tan, haben die gesagt«, brummte er und schaute sich beifallheischend um. »Niemand hat mir erzählt, daß dies hier Tans Bezirk ist. Der größte Hurensohn in dieser Armee voller Hurensöhne.«
Einen Moment lang schien es, als hätte niemand ihm zugehört, dann beugte sich plötzlich eine der Wachen vor und hieb dem Mann den Schlagstock gegen die Schienbeine. Das Gesicht des khampa verwandelte sich kurz in eine schmerzverzerrte Grimasse und ging dann in ein boshaftes Lachen über, während der Mann eine kleine Drehbewegung in Shans Richtung machte, als hielte er ein Messer in der Hand. Mit einstudiertem Desinteresse schloß Shan die Augen.
Die Klappe wurde am Heck des Lasters festgezurrt, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Auf der dunklen Ladefläche erhob sich ein leises Murmeln. Es war kaum zu hören, so wie das Rauschen eines weit entfernten Flusses. Während der dreißigminütigen Fahrt zum Lager saßen die Wachen in den Führerhäusern der Fahrzeuge, und die Häftlinge waren unter sich. Die Erschöpfung des Trupps war beinahe zu greifen. Sie glich einem müden Grauschleier, der sich wie eine dämpfende Watteschicht über die Rückfahrt legte. Aber sie entband die Männer nicht von ihren Gelübden.
Nach drei Jahren war Shan inzwischen in der Lage, die malas, die Gebetsketten der Männer, am Geräusch auseinanderzuhalten. Der Mann links von ihm ließ eine Schnur mit Knöpfen durch die Finger gleiten. Die unerlaubte mala zu seiner Rechten hatte man aus Fingernägeln gefertigt. Das Prinzip war weit verbreitet: Man ließ seine Nägel wachsen, schnitt sie ab und sammelte sie auf einem Faden, den man aus einer Decke gezogen hatte, bis die erforderliche Anzahl von hundertacht Exemplaren erreicht war. Manche Rosenkränze bestanden nur aus Knoten in einem solchen Faden und bewegten sich geräuschlos durch die schwieligen Hände. Andere Häftlinge hatten Melonenkerne benutzt und ihre malas dadurch zu begehrten Objekten gemacht, die sorgsam gehütet werden mußten, weil andere Gefangene, vor allem die Neuankömmlinge, mehr auf die Rituale des Überlebens als auf die Rituale Buddhas bedacht waren. Sie würden solche Gebetsketten einfach aufessen.
Mit jedem Kern oder Fingernagel, Knoten oder Knopf sagte ein Priester das uralte Mantra auf: Om mani padme hum. O Juwel in der Lotusblüte, die Anrufung des mitfühlenden Buddhas. Kein Geistlicher würde sich auf seine Schlafstelle niederlassen, bevor er nicht sein tägliches Soll von mindestens einhundert Umläufen hinter sich gebracht hatte.
Die Litanei wirkte wie ein Balsam auf Shans müde Seele. Die Priester und ihre Mantras hatten sein Leben verändert. Sie hatten es ihm ermöglicht, den Schmerz der Vergangenheit hinter sich zu lassen und nicht mehr zurückzublicken. Zumindest meistens. Das müsse genau untersucht werden, hatte er zu Chang gesagt. Die Worte hatten ihn selbst weitaus mehr überrascht als den Leutnant. Die Macht der Gewohnheit.
Als die Müdigkeit ihn zu übermannen drohte, stieg plötzlich ein Bild vor ihm auf. Ein kopfloser Körper saß aufrecht da und spielte mit einem goldenen Feuerzeug herum. Die Gestalt bemerkte ihn und streckte ihm zögernd das Feuerzeug entgegen. Auf einmal wurde ihm die Luft knapp. Keuchend riß er die Augen auf.
Nicht der khampa beobachtete ihn, sondern ein älterer Mann, der einzige Sträfling mit einem echten Rosenkranz, einer antiken mala aus Jadeperlen, die sie vor einigen Monaten zufällig gefunden hatten. Der Mann, der sie benutzte, saß schräg gegenüber von Shan neben Trinle auf der Bank hinter dem Führerhaus. Sein Gesicht war glatt wie ein runder Pflasterstein, abgesehen von der gezackten Narbe an der linken Schläfe, wo ihn vor dreißig Jahren ein Rotgardist mit einer Hacke angegriffen hatte. Choje Rinpoche war der kenpo, der Abt vom Kloster Nambe gewesen, einem der vielen tausend Klöster, das die Chinesen zerstört hatten. Jetzt war er kenpo der 404. Baubrigade des Volkes.
Während Choje genau wie die anderen seine Perlen abzählte, ohne das Schlingern des Wagens zu beachten, ließ Trinle ein kleines Objekt in seinen Schoß fallen, das in ein Stück Stoff gewickelt war. Choje senkte die Gebetskette und wickelte den Gegenstand langsam aus. Es handelte sich um einen Stein, auf dem ein rostfarbener Fleck zu sehen war. Der alte Lama nahm ihn ehrfurchtsvoll und musterte ihn von allen Seiten, als läge dann eine Erkenntnis verborgen. Als er das Geheimnis erkannte, legte sich eine große Traurigkeit über sein Antlitz. Der Stein war von getrocknetem Blut überzogen. Choje schaute auf und blickte abermals zu Shan herüber. Dann nickte er ernst, als wolle er Shans schlimme Vorahnung bestätigen. Der Mann mit den amerikanischen Jeans hatte dort, mitten auf ihrer Straße, seine Seele verloren. Die Buddhisten würden sich weigern, die Arbeit an diesem Berg fortzusetzen.