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Jemand packte Shan am Arm und zerrte ihn auf den Wagen zu, in dem nach wie vor Yeshe und Feng saßen. »Oberst Tan sagt, ihr müßt verschwinden. Sofort«, drängte der Soldat.

Shan ließ sich zu dem Auto führen, aber an der Tür riß er sich los und drehte sich noch einmal zu der merkwürdigen Frau um. Zunächst warf sie ihm nur einen flüchtigen Blick zu. Dann wandte sie sich erneut in seine Richtung und musterte ihn nachdenklich, vielleicht weil ihr bewußt wurde, daß Shan an diesem Ort der einzige Chinese ohne Uniform war. Ihre grünen Augen ließen auf einen wachen, rastlosen Verstand schließen. Eine Frage schien sich in ihrer Miene zu manifestieren. Noch bevor Shan herausfinden konnte, ob diese Frage sich auf hn bezog, wurde er in den Wagen gestoßen.

Auf seinem Tisch im Gebäude der Gefängnisverwaltung erwartete ihn bereits eine Akte. Madame Ko hatte sie persönlich vorbeigebracht, und auf dem Umschlag stand »Bekannte Unruhestifter/Bezirk Lhadrung«. Es war eine alte Akte, die vom häufigen Gebrauch zahlreiche Eselsohren davongetragen hatte, und sie war in vier Kategorien unterteilt. Drogensüchtige Kultanhänger lautete die erste Überschrift. Sie ging auf die wunderliche Meinung der Polizei zurück, daß fanatische Rituale mit Drogenmißbrauch einhergehen würden. In den großen chinesischen Städten war man schon vor einigen Jahren wieder davon abgerückt. Jugendbanden. Die fünfzehn aufgeführten Personen waren allesamt älter als dreißig Jahre. Kriminelle Wiederholungstäter. Die Liste umfaßte jeden aus Lhadrung, der irgendwann in einem lao gai-Gefängnis gesessen hatte, fast dreihundert Namen. Kulturelle Agitatoren. Dies war bei weitem die längste Liste. Hinter jedem Namen wurde entweder ein gompa oder die Bezeichnung »nicht registriert« aufgeführt. Es handelte sich ausschließlich um Mönche. Viele davon hatte man vor einigen Jahren während der Daumen-Aufstände verhaftet. Ein Dutzend der nicht registrierten Mönche war mit einem zusätzlichen Eintrag versehen: Möglicher purba. Shan war verwirrt. Ein purba war ein ritueller Dolch, der bei tibetischen Zeremonien benutzt wurde. Er blätterte bis zum Ende der Akte weiter. Keine Liste der mordlustigen Schutzdämonen.

Er nahm den Hörer des Telefons ab. Madame Ko meldete sich nach dem dritten Klingeln. »Sagen Sie dem Oberst, es wird noch eine weitere Autopsie nötig sein.«

»Autopsie?«

»Er muß Dr. Sung in der Klinik davon berichten.«

»Ach, hätte ich das doch nur vorher gewußt«, seufzte sie. »Ich war nämlich gerade erst dort.«

»Sie sind im Krankenhaus gewesen?«

»Ich sollte etwas dort abliefern, also bin ich schnell hingegangen. Es war in Zeitungspapier und Plastiktüten eingewickelt. Damit der Kohl frisch bleibt, hat er gesagt.«

Shan starrte den Hörer an. »Danke, Madame Ko«, murmelte er.

»Gern geschehen, Xiao Shan«, sagte sie fröhlich und legte auf.

Xiao Shan. Die Worte ließen ihn sich plötzlich einsam fühlen, denn er hatte sie schon seit vielen Jahren nicht mehr gehört. Seine Großmutter hatte ihn so genannt; es war die altertümliche Anrede für eine jüngere Person. Kleiner Shan.

Er ertappte sich dabei, wie er hinaus ins Hauptbüro starrte und einem Arbeiter beim Anspitzen von Bleistiften zusah. Ihm war ganz entfallen, wie viele tausend kleine Dinge dort draußen zur täglichen Routine gehörten, und sei es nur das Anspitzen eines Bleistifts. Er biß die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Frage an, die kein Gefangener im Gulag sich zu stellen wagte: War er in der Lage, jemals wieder dort draußen zu leben? Nicht, ob er je freigelassen würde, denn jeder Häftling mußte an eine zukünftige Entlassung glauben, sondern wer er sein würde, wenn man ihn freiließ. Alle kannten die Geschichten über einstige Sträflinge, die niemals wieder zurechtkamen, die zu verängstigt waren, um ihr Bett zu verlassen, oder die auf ewig gebeugt gingen, als trügen sie noch immer Ketten, so wie das Pferd, das nie wieder wegzulaufen versucht, nachdem man ihm einmal die Vorderbeine zusammengebunden hat. Warum gab es niemals Geschichten über Häftlinge, die sich nach der Freilassung erfolgreich wieder eingliedern konnten? Vielleicht weil so schwer zu verstehen war, was der Begriff Erfolg für einen Überlebenden des Gulags bedeutete. Shan erinnerte sich an Chojes letzte Worte zu Lokesh, nachdem die beiden dreißig Jahre in derselben Gefängnisbaracke zugebracht hatten. »Du mußt lernen, wieder du selbst zu sein«, hatte Choje gesagt, während Lokesh an seiner Schulter weinte.

Er schlug seinen Notizblock auf. Auf dem letzten Blatt waren sie noch immer zu lesen. Der Name seines Vaters. Sein eigener Name. Ohne nachzudenken, zeichnete er ein weiteres Schriftzeichen, eine komplexe Figur, die mit einem Kreuz begann, in dessen Vierteln kleine Striche auf die Mitte wiesen. Sie standen für gedroschenen Reis und verbanden sich zu dem Piktogramm einer lebenden Pflanze über dem Herd eines Alchimisten. Zusammen bedeuteten sie Lebens-Kraft. Das war eines der Lieblingsideogramme seines Vaters gewesen. An dem Tag, als sie kamen, um ihm seine Bücher wegzunehmen, hatte er es auf die staubige Fensterscheibe gezeichnet. Choje hatte Shan das entsprechende Zeichen in tibetischer Schrift gelehrt. Aber Choje nannte es anders: die Unbeugsame Macht des Seins.

Vor dem Tisch bewegte sich etwas. Shan klappte den Block zu und bedeckte ihn instinktiv mit den Händen. Es war aber nur Feng, der aufstand, weil Leutnant Chang sich näherte.

Chang wies auf Shan und lachte. Dann beugte er sich zu Feng und sprach leise mit ihm. Shan starrte an ihnen vorbei ins Büro und sah den einfarbigen Gestalten bei ihren verschiedenen Tätigkeiten zu.

Als er den Block wieder aufschlug, erinnerte er sich an das einundzwanzigste Kapitel des Taoteking und schrieb zwei Zeilen daraus an das Ende seiner Ermittlungsnotizen. Im Zentrum liegt die Lebenskraft, hieß es dort. Im Zentrum der Lebenskraft liegt die Wahrheit.

Er stellte den Block aufgeklappt vor sich hin, so daß der Vers zu sehen war, und musterte ihn nachdenklich. Jeder Fall besitzt eine eigene Lebenskraft, eine eigene Essenz, ein eigenes grundlegendes Motiv, hatte er einst seinen Untergebenen eingeschärft. Finde diese Lebenskraft, und du findest die Wahrheit.

Shan bemerkte ein leises Geräusch vor sich. »Was machen Sie da?« fragte Yeshe und schaute sich unsicher zu Sergeant Feng um. »Ich stehe hier schon seit fünf Minuten.« Er hielt einen Teller mit drei großen momo-Klößen. Das Hauptbüro hinter ihm war leer und dunkel.

Die momos waren die erste Mahlzeit, die Shan an diesem Tag zu Gesicht bekam. Er wartete, bis Feng sich umdrehte, stopfte sich zwei davon in die Tasche und schlang den dritten hinunter. Der Kloß war köstlich und mit echtem Fleisch gefüllt. Er stammte vermutlich aus der Küche der Wachen, denn die momos der Häftlinge wurden mit grobem Getreide vollgestopft, worunter stets eine große Portion Gerstenspreu gemischt war. Während seines ersten Winters hatte man die momos mit gemahlenen Maiskolben gefüllt, wie sie sonst nur an Schweine verfüttert wurden, weil in jenem Jahr eine Dürre den Ernteertrag geschmälert hatte. Mehr als ein Dutzend Mönche waren an der Ruhr und an Unterernährung gestorben. Die Tibeter hatten einen eigenen Ausdruck für diese Art des Hungertods, der Tausende von Opfern gefordert hatte, als anfangs beinahe die gesamte geistliche Bevölkerung Tibets im Gefängnis saß. Tod durch die momo-Kugel. Nach der Dürre hatte die Tibetische Freundschaftsvereinigung, eine buddhistische Wohlfahrtsorganisation, die Erlaubnis erhalten, den Gefangenen zweimal pro Woche eine Mahlzeit zu bringen. Direktor Zhong hatte es als große Versöhnungsgeste bezeichnet und dabei überaus fröhlich getan. Shan war davon überzeugt, daß der Direktor die eigentlich für die Häftlingsverpflegung bestimmten Gelder in die eigene Tasche steckte.