Es klopfte, und dann trat wieder Madame Ko ein, gefolgt von dem bebrillten Tibeter, den Shan bei der Höhle am Steuer des Wagens der Amerikaner gesehen hatte. Der Mann war nicht besonders groß und hatte dunkle Haut und kleine Augen. Seine ausgeprägten Gesichtszüge ließen ihn irgendwie anders aussehen als die meisten Tibeter, die Shan kannte.
»Mr. Kincaid«, stieß der Tibeter hervor und hielt Miss Fowler einen Umschlag entgegen. Er bemerkte Tan und richtete seinen Blick sofort zu Boden. »Er sagt, ich soll Ihnen das hier unter allen Umständen sofort geben.«
Rebecca Fowler stand auf und streckte langsam und zögernd die Hand aus. Der Tibeter ließ den Umschlag hineinfallen und zog sich unterwürfig aus dem Raum zurück.
Tan sah ihm hinterher. »Einer der Fleisch-Affen arbeitet für Sie?«
Das war es, erkannte Shan. Der Mann war ein ragyapa aus der uralten Kaste, die sich um die Beseitigung von Tibets Toten kümmerte.
»Luntok ist einer unserer besten Ingenieure«, sagte Fowler frostig. »Er hat die Universität besucht.« Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Stück Papier und zuckte überrascht zusammen. Sie ließ das Blatt sinken, starrte Tan wütend an und las es dann ein weiteres Mal. »Was ist nur mit euch los?« fragte sie ungläubig. »Wir haben einen Vertrag, verdammt.«
Sie sah erst Tan, dann Shan an. »Das Ministerium für Geologie«, verkündete sie in einem Tonfall, der zu verstehen gab, daß Tan ihrer Meinung nach bereits Bescheid wissen mußte, »hat meine Betriebserlaubnis vorerst außer Kraft gesetzt.«
Die leere Baracke, die man ihnen im Lager Jadefrühling zur Verfügung gestellt hatte, war dermaßen baufällig, daß Shan das Blechdach bei jedem Windstoß tatsächlich erzittern und abheben sehen konnte. Sergeant Feng belegte das einzeln stehende Bett mit Beschlag, das normalerweise dem Unteroffizier der Kompanie zustand, und ließ Shan und Yeshe mit ausholender Geste die freie Wahl zwischen den zwanzig eisernen Etagenbetten, die an den Wänden der Unterkunft aufgereiht waren. Shan ignorierte ihn und begann, seine Akten auf dem Metalltisch auszubreiten, der am Ende der Bettreihen stand.
»Ich brauche einen Schlüssel zu dem Gebäude«, teilte er Sergeant Feng mit.
Feng, der in einem Schrank nach Bettzeug wühlte, drehte sich kurz um, weil er sich vergewissern wollte, ob Shans Forderung ernst gemeint war. »Halt's Maul.« Er fand sechs Decken, behielt drei, gab zwei an Yeshe weiter und warf die letzte Shan zu Shan ließ sie zu Boden fallen und schritt die Bettreihen ab, um ein Versteck für seine Notizen zu suchen.
In weniger als dreißig Metern Entfernung stand auf der anderen Seite des Exerzierplatzes das Arrestlokal. Ein vertrockneter Heidebusch wurde über das Gelände geweht. Aus einem Lautsprecher, der an einem Kabel aus seinem zerbrochenen Rahmen hing, drang stotternd eine martialische Melodie, irgendein Militärmarsch, der infolge der atmosphärischen Störungen nicht wiederzuerkennen war. Gruppen von Soldaten hatten sich am Rand des Platzes gesammelt und musterten ärgerlich die neuen Wachen, die vor dem Gebäude Posten bezogen hatten.
»Kriecher«, wurde Shan von Yeshe voller Bestürzung gewarnt, als sie quer über den Platz auf das Haus zugingen. »Die gehören nicht hierher. Das ist ein Armeestützpunkt.«
»Wir haben Sie bereits erwartet«, teilte der diensthabende Offizier der Öffentlichen Sicherheit Shan am Eingang kurz und bündig mit. »Oberst Tan hat uns benachrichtigt, daß Sie ein Verhör des Gefangenen durchführen würden.« Währenddessen ließ er den Blick über die drei Männer schweifen und machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. Er musterte kurz Sergeant Fengs graues Gesicht, erachtete Yeshe sogleich als völlig uninteressant und konzentrierte sich dann auf Shan, der nach wie vor den anonymen grauen Mantel eines leitenden Funktionärs trug. Der Offizier zögerte kurz vor der Tür, als sei er angesichts der Besucher verwirrt, zuckte schließlich aber die Achseln.
»Bringen Sie ihn dazu, daß er ißt«, sagte er und trat beiseite. »Ich kann dafür sorgen, daß der Spinner nicht abhaut«, fuhr er fort, während er die schwere Metalltür zum Zellenblock aufschloß. »Aber ich kann nicht verhindern, daß er sich zu Tode hungert. Falls er zu schwach wird, schieben wir ihm einen Schlauch in den Magen. Er muß bei Kräften bleiben.«
Klingt ganz nach jemandem, der den Ablauf der Volksgerichtsprozesse gewöhnt ist, dachte Shan. Von dem Angeklagten wurde erwartet, daß er mit reumütig gesenktem Kopf vor dem Tribunal stand. Die außerordentliche Dramatik der Verhandlung eines Kapitalverbrechens wurde stets noch erhöht, wenn der Angeklagte physische Stärke bewies, weil der Wille des Volkes ihn dann noch deutlicher brechen konnte.
Der feuchte Korridor stank nach Urin und Schimmel. Zu beiden Seiten befanden sich Zellen, die durch Betonwände voneinander getrennt wurden. Das einzige Licht stammte von trüben Glühlampen, die entlang der Mitte des Gangs hingen. Als Shans Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er, daß die Zellen, abgesehen von Metalleimern und Strohsäcken, leer waren. Am Ende des Korridors stand ein kleiner metallener Schreibtisch, an dem eine zusammengesunkene schlafende Gestalt saß, deren Stuhl an der Wand lehnte.
Der Offizier stieß mit schneidender Stimme eine einzelne Silbe hervor, woraufhin der Mann hastig aufsprang und fahrig salutierte. »Der Unteroffizier wird sich um Ihre Wünsche kümmern«, sagte der Offizier und machte kehrt. »Falls Sie weitere Männer benötigen, stehen meine Wachen zu Ihrer Verfügung.«
Shan schaute ihm verwirrt hinterher. Weitere Männer? Der Unteroffizier nahm umständlich einen Schlüssel vom Gürtel und öffnete ein großes Schubfach des Schreibtisches. Er winkte einladend. »Bevorzugen Sie eine bestimmte Technik?«
»Technik?« fragte Shan beunruhigt.
Das Schubfach enthielt neben einem Haufen schmutziger Lumpen sechs Gegenstände: Ein Paar Handschellen. Einige zehn Zentimeter lange Bambussplitter. Eine große Klemmschraube, die problemlos um das Fußgelenk oder die Hand eines Mannes passen würde. Ein Stück Gummischlauch.
Einen Zimmermannshammer. Eine Spitzzange aus rostfreiem Stahl. Und den Lieblings-Westimport des Büros, einen elektrischen Viehtreiber.
Shan kämpfte gegen den Brechreiz an, den er plötzlich verspürte. »Öffnen Sie uns lediglich die Zellentür.« Er schob das Schubfach zu. Yeshes Gesicht hatte sämtliche Farbe verloren.
Der Unteroffizier und Feng warfen sich belustigte Blicke zu. »Ihr erster Besuch, richtig? Sie werden schon sehen«, sagte der Unteroffizier zuversichtlich und öffnete die Tür. Feng setzte sich auf die Tischkante und fragte den Wachposten nach einer Zigarette. Shan und Yeshe traten in die Zelle.
Der Raum war für mehrere Gefangene gedacht. Auf dem Boden lagen sechs Strohsäcke, und entlang der linken Wand stand eine Reihe von Eimern, von denen einer ein paar Zentimeter hoch mit Wasser gefüllt war. Ein weiterer Eimer war umgedreht aufgestellt und diente als Tisch. Auf ihm standen zwei kleine Blechschalen mit Reis. Der Reis war kalt und offenbar nicht angerührt worden.
Die hintere Wand der Zelle lag im tiefen Schatten. Shan versuchte, das Gesicht des Mannes zu erkennen, der dort saß, bis er bemerkte, daß der Häftling zur Wand schaute. Shan rief nach mehr Licht. Der Wachposten brachte eine batteriebetriebene Taschenlampe, die Shan auf einen umgestülpten Eimer legte.
Der Gefangene Sungpo saß im Lotussitz. Er hatte die Ärmel seines Sträflingskittels abgerissen und daraus ein gomthag-Band angefertigt, das um seine Knie und den Rücken geknotet war. Dabei handelte es sich um ein traditionelles Hilfsmittel bei längeren Meditationen, mit dem ein erschöpftes Umkippen des Körpers vermieden werden sollte, solange der Geist sich anderswo befand. Sein Blick schien auf einen Punkt jenseits der Wand gerichtet zu sein, und seine Hände lagen vor seiner Brust aneinander.