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Sergeant Feng tauchte auf. »Die Amerikaner! Wir sollen doch zu den Amerikanern fahren.«

»Ich gehe über die Schlucht bis zu dem Gebirgskamm auf der anderen Seite«, sagte Shan.

Feng hob die Hand zur Stirn, als verspüre er plötzlich große Schmerzen. »Du kannst da nicht rüber«, knurrte er. Er nahm die Karte und grinste. »Schau doch selbst nach. Die Brücke existiert gar nicht.« Vor einigen Jahren hatte Peking alle alten Hängebrücken von den Karten getilgt. Die meisten waren von der Volksluftwaffe bombardiert worden, weil sie das Fortkommen der Widerstandskämpfer erleichterten.

»Gut«, sagte Shan. »Dann werde ich jetzt diese imaginäre Brücke überqueren. Sie können solange hier warten und sich vorstellen, ich würde dicht neben Ihnen stehen.«

Fengs rundes Gesicht umwölkte sich. »Hiervon hat der Oberst nichts gesagt«, murmelte er.

»Und Ihre Aufgabe besteht darin, mir bei den Ermittlungen behilflich zu sein.«

»Meine Aufgabe besteht darin, einen Sträfling zu bewachen.«

»Dann lassen Sie uns umkehren. Wir werden Oberst Tan bitten, seine Befehle zu erläutern. Sicherlich hat der Oberst vollstes Verständnis dafür, wenn ein Soldat einen Befehl nicht versteht.«

Sergeant Feng schaute verwirrt zurück zum Wagen. Yeshe hingegen wirkte äußerst ungeduldig. Er machte einen Schritt auf das Fahrzeug zu, als wolle er so schnell wie möglich weiterfahren. »Ich kenne den Oberst«, sagte der Sergeant verunsichert. »Wir haben schon lange Zeit vor Tibet zusammen gedient. Er hat meine Versetzung arrangiert, als ich darum bat, in seinen Bezirk zu kommen.«

»Hören Sie, Sergeant. Das hier ist keine militärische Übung, sondern eine Ermittlung. Ermittler entdecken und reagieren. Ich habe diese Brücke entdeckt, und jetzt werde ich darauf reagieren. Vom Kamm dieses Bergrückens aus kann man vermutlich die Baustelle der 404ten sehen. Ich muß wissen, ob es möglich wäre, dort hinunterzuklettern, was bedeuten würde, daß es außer der Straße noch eine andere Route gibt.«

Feng seufzte. Er überprüfte demonstrativ die Munition in seiner Pistole, schnallte den Gürtel enger und ging auf die Brücke zu. Yeshe wirkte sogar noch zögerlicher als Feng.

»Sie werden ihm niemals helfen können, das wissen Sie doch, oder?« sagte Yeshe zu Shans Rücken.

Shan drehte sich um. »Ihm helfen?«

»Sungpo. Ich weiß, was Sie denken. Sie glauben, Sie müßten ihm helfen.«

»Falls er schuldig ist, werden die Beweise den Vorwurf erhärten. Und falls er unschuldig ist, verdient er dann nicht unsere Hilfe?«

»Ihnen ist das egal, weil es Sie nicht stört, wenn Ihnen Schaden zugefügt wird. Aber Sie werden lediglich erreichen, daß auch wir anderen in Mitleidenschaft gezogen werden. Sie wissen, daß Sie niemanden retten können, der bereits formell beschuldigt wurde.«

»Wer versuchen Sie zu sein? Ein kleines Vögelchen, das dem Büro gern ein Liedchen trällern würde? Ist das Ihr Lebensinhalt?«

Yeshe starrte ihn aufgebracht an. »Ich versuche zu überleben«, sagte er steif. »Wie alle anderen auch.«

»Dann ist alles Verschwendung gewesen. Ihre Ausbildung. Ihre Zeit im Kloster. Ihre Haftstrafe.«

»Ich habe eine Anstellung. Ich werde die notwendigen Papiere erhalten und in die Stadt gehen. In der sozialistischen Ordnung gibt es für jeden einen Platz«, sagte er mit hohler Stimme.

»Für Leute wie Sie gibt es immer einen Platz. China ist voll davon«, erwiderte Shan und ging weiter.

Feng hatte die Brücke bereits erreicht und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Das ist... wir können doch nicht...« Er beendete den Satz nicht, sondern starrte auf die ausgefransten Haltetaue, die fehlenden Trittbretter und das Schwanken der wackligen Konstruktion im Wind.

Direkt vor der Brücke befand sich ein mehr als mannshoher Felshaufen. »Ein Opfer«, sagte Shan. »Reisende müssen zuerst ein Opfer darbieten.« Er nahm einen Stein vom Abhang, legte ihn auf den Haufen und trat auf die Brücke. Feng schaute zur Straße, als wolle er sich vergewissern, daß keine Zeugen zugegen waren. Dann suchte er sich hastig einen eigenen Stein und legte ihn auf den Haufen.

Die Bretter knarrten. Das Seil ächzte. Der Wind fegte durch den Trichter des Schlunds. Neunzig Meter unter ihnen floß ein schmales Rinnsal zwischen den zerklüfteten Felsen hindurch. Shan mußte sich zu jedem einzelnen Schritt zwingen und hatte große Mühe, die ängstlich verkrampften Hände von den Führungsseilen zu lösen und sich neuen Halt zu suchen.

In der Mitte blieb er stehen und stellte überrascht fest, daß man von hier aus eine gute Sicht auf Tans stolze Errungenschaft hatte, die neue Straßenbrücke, die sich am Übergang vom Schlund zum Tal befand. Der Wind zerrte an Shans Kleidung und versetzte die Brücke in Bewegung, so daß sie beunruhigend zu schaukeln begann. Er drehte sich um. Feng rief ihm etwas zu, doch seine Worte gingen im Wind unter. Er bedeutete Shan, nicht stehenzubleiben, denn er zweifelte, daß die Brücke das Gewicht von zwei Männern auf Dauer aushalten würde. Yeshe stand dort, wo Shan ihn zurückgelassen hatte, und starrte in den Abgrund.

Auf der anderen Seite der Schlucht stiegen sie zwanzig Minuten lang den steilen Abhang hinauf. Shan ging voran, und Sergeant Feng, der älter und weitaus schwerer war, kam nur mit Mühe hinterher. Schließlich rief der Sergeant eine Warnung. Als Shan sich umdrehte, hatte Feng die Pistole gezogen. »Falls du wegläufst, werde ich dich jagen«, schnaufte der Sergeant. »Alle werden dich jagen.« Er richtete die Waffe auf Shan, senkte sie aber sogleich wieder mit bestürztem Blick, als hätte die Bewegung ihn erschreckt. »Sie werden deine Tätowierung zurückbringen«, sagte er zwischen den keuchenden Atemzügen. »Mehr brauchen sie nicht. Nur die Tätowierung.« Er wirkte völlig unentschlossen. Dann winkte er mit der Pistole. »Komm her.«

Shan ging langsam auf ihn zu und wußte nicht, was ihn erwarten würde.

Feng nahm ihm das Fernglas ab und machte sich auf den Rückweg.

Shan ließ den Blick über den langgestreckten Hang des Bergrückens Richtung Süden schweifen. Der rote Fleck, der einen Pilger darstellte, war fast außer Sichtweite. Jenseits des oberhalb von Shan gelegenen Kamms befand sich die 404te. Er kletterte weiter. Als er den Grat erreicht hatte, fühlte er sich plötzlich überraschend heiter. Das Gefühl war so ungewohnt, daß er sich auf einen Felsen setzte, um darüber nachzudenken. Es war nicht nur die Befriedigung darüber, daß er einen weiteren Weg zur Baustelle gefunden hatte, die er nun unterhalb vor sich sah Es war nicht nur der ehrfurchtgebietende Ausblick wie vom Dach der Welt, der sich so weit erstreckte, daß Shan in mehr als hundertfünfzig Kilometern Entfernung den weiß schimmernden Gipfel des Chomolungma erspähen konnte, des höchsten Bergs im Himalaja. Es war die Klarheit.

Einen Moment lang schien er nicht nur die Kammlinie erreicht, sondern eine neue Dimension betreten zu haben. Der Himmel war nicht einfach bloß klar, sondern wie eine Linse, die alles größer und detaillierter als zuvor wirken ließ. Die Unordnung in seinem Geist schien vom Wind weggeblasen worden zu sein. Er berührte die Stelle an seinem Hinterkopf, an der man ihm die Haarlocke abgeschnitten hatte. Choje hätte gesagt, er erstürme die Tore der Buddhaschaft.

Und dann begriff er es: Es ging nur um den Berg. Man hätte Jao überall umbringen können, erst recht irgendwo entlang der abgelegenen Straße zum Flughafen. Doch man hatte ihn zur Südklaue gelockt, und zwar weil jemand wollte, daß ein jungpo den Berg beschützen würde. Jemand wollte den Bau der Straße verhindern. Viele Leute hatten ein Motiv für den Mord an Jao. Aber wer hatte Veranlassung, den Berg zu retten? Oder die Immigranten aufzuhalten, die sich im dahinter liegenden Tal niederlassen würden? Jao hatte sich in Begleitung von jemandem befunden, den er kannte und dem er vertraute. Diejenigen, die er kannte und denen er vertraute, wären aber am Bau und nicht an der Verhinderung von Straßen interessiert. Dem Mord haftete eine gewisse ungestüme Leidenschaft an, und doch hatte der Täter alles sorgfältig geplant. Es sah fast so aus, als gäbe es zwei Verbrechen, zwei Motive und zwei Mörder.