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Als die Lastwagen im Innern des Lagers anhielten, verschwanden die Rosenkränze. Signalpfeifen ertönten, und die Planen wurden losgeschnürt. Durch das graue Licht der Abenddämmerung trotteten die Gefangenen schweigend in die flachen Holzbaracken, in denen sie untergebracht waren, und kamen gleich darauf wieder mit ihren Blechschalen zum Vorschein, die jedem der Männer zugleich als Waschbecken, Eßteller und Teetasse dienten. Sie reihten sich auf einer Seite der Kochhütte auf, um sich ihre Näpfe mit Gerstenbrei füllen zu lassen, und standen dann essend im Freien herum. Mit dem warmen Brei im Magen wurden sie wieder etwas munterer. Wortlos nickten sie einander zu und lächelten sich erschöpft an.

Falls jemand ein Wort sagte, würde man ihn im Stall übernachten lassen.

Nachdem sie wieder in der Unterkunft waren, hielt Trinle den neuen Häftling auf, als dieser den Raum durchquerte. »Hier nicht«, sagte der Mönch und wies auf ein Rechteck, das man mit Kreide auf den Boden gezeichnet hatte.

Der drahtige khampa, für den die unsichtbaren Altäre der Sträflingsbaracken offenbar nichts Neues bedeuteten, zuckte die Achseln und ging um das Rechteck herum zu einem freien Bett in der Ecke des Raums.

»Neben der Tür«, sagte Trinle leise. Er sprach stets im gleichen bedächtigen Tonfall, als würde er jeden wachen Moment seines Daseins ehrfürchtig verfolgen. »Dein Bett ist neben der Tür«, wiederholte er und bot sich an, die Sachen des Mannes zu tragen.

Der Mann schien ihn nicht gehört zu haben. »Bei Buddhas heiligem Atem!« keuchte er und schaute auf Trinles Hände. »Wo sind deine Daumen?«

Trinle blickte zu seinen Händen hinunter. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er mit einem Anflug von Neugier, als hätte er noch nie über diese Frage nachgedacht.

»Diese Schweinehunde. Die haben dir das angetan, nicht wahr? Damit du deine Gebetskette nicht benutzen kannst.«

»Ich komme dennoch zurecht«, erwiderte Trinle. »Neben der Tür.«

»Hier sind aber zwei freie Betten«, entgegnete der Mann. Er war kein Priester. Er lehnte sich auf dem Strohlager zurück, als würde er Trinle herausfordern, ihn eigenhändig von dort zu vertreiben. Die Leute aus Kham waren die entschlossensten Widerstandskämpfer gewesen, die sich je gegen die Volksbefreiungsarmee erhoben hatten. Noch immer wurden manche von ihnen in den entlegenen Gebirgsregionen wegen angeblicher Sabotageakte verhaftet. Außerhalb ihres Gebiets war es den khampas der südlichen Stämme, die sich noch lange nach der Unterwerfung des restlichen Tibets gegen die Armee gewehrt hatten, weiterhin verboten, eine Waffe zu besitzen. Sogar die Klingen ihrer Messer durften nicht länger als zwölf Zentimeter sein.

Der Mann zog einen seiner abgerissenen Stiefel aus und holte mit großer Geste ein Stück Papier aus seiner Tasche. Es war ein Blatt aus einem der Kontrollbücher der Wachen, die manchmal vom Wind aufgeschlagen wurden. Mit übertrieben breitem Grinsen hielt er es empor und schob es als zusätzliche Wärmedämmung in seinen Stiefel. Für das Leben in der 404ten waren selbst winzigste Siege von Bedeutung.

Während er sich die Lumpen, die ihm als Socke dienten, erneut um den Fuß wickelte, musterte der Neuankömmling seine Zellengenossen. Shan hatte diese gleichbleibende Prozedur schon weitaus öfter mit angesehen, als er zählen konnte. Jeder neue Gefangene hielt zuerst nach dem Oberpriester Ausschau, dann nach den Schwachen, die keinen Ärger machen würden. Er suchte nach denen, die bereits aufgegeben hatten, und nach denen, die vielleicht Spitzel waren. Der erste Punkt auf dieser Liste war schnell abgehakt. Der Blick des khampa richtete sich sofort auf Choje, der neben einem der mittleren Betten im Lotussitz auf dem Boden saß und noch immer den Stein in seiner Hand betrachtete. Niemand in der Hütte, ja sogar niemand in der gesamten lao gai-Brigade strahlte eine solche Gelassenheit aus.

Einer der jungen Mönche holte ein paar Blätter aus der Tasche. Sie stammten von dem Unkraut, das auf den Berghängen wuchs. Trinle zählte die Blätter ab und verteilte sie, so daß jeder Gefangene eines davon erhielt. Die Mönche nahmen ihr jeweiliges Blatt feierlich entgegen und flüsterten ein Mantra des Danks für den Mann, der turnusgemäß an der Reihe gewesen war, für das Sammeln der Pflanzen eine Bestrafung zu riskieren.

Trinle drehte sich wieder zu dem khampa um, der inzwischen auf seinem Blatt kaute. »Es tut mir leid«, sagte er. »Shan Tao Yun schläft dort.«

Der khampa wandte sich zur Seite und richtete seinen Blick auf Shan, der neben Choje auf dem Boden saß.

»Der Reisfresser?« stieß er verächtlich hervor. »Kein khampa läßt sich von einem verdammten Reisfresser Vorschriften machen.« Er lachte und schaute sich um. Niemand fiel in das Gelächter ein.

Das Schweigen schien ihn noch weiter anzustacheln. »Sie haben unser Land gestohlen. Sie haben unsere Klöster gestohlen. Unsere Eltern. Unsere Kinder«, rief er und musterte die Mönche mit wachsender Ungeduld.

Die Mönche sahen einander unangenehm berührt an. Der Haß in der Stimme des Mannes war wie ein ungebetener Gast in ihrer Baracke.

»Und das war erst der Anfang, um ihnen die Zeit zu verschaffen, die wirkliche Aufgabe in Angriff zu nehmen. Jetzt stehlen sie uns unsere Seelen. Sie schicken ihre Leute in unsere Städte, in unsere Täler, in unsere Berge. Sogar in unsere Gefängnisse. Um uns zu vergiften. Um uns wie sie werden zu lassen. Unsere Seelen verkümmern. Unsere Gesichter verschwinden. Jeder von uns wird zu einem Niemand.«

Er fuhr plötzlich herum und schaute zu den gegenüberliegenden Betten herüber. »In meinem letzten Lager ist es passiert. Sie haben alle ihre Mantras vergessen. Eines Tages sind sie aufgewacht, und ihr Gedächtnis war leer. Kein einziges Gebet war mehr da.«

»Sie werden die Gebete niemals aus unseren Herzen reißen können«, sagte Trinle und warf Shan einen besorgten Blick zu.

»Verdammt! Sie reißen uns das Herz gleich mit heraus. Also kann niemand weiterkommen, niemand erreicht mehr Buddha, Es geht immer nur abwärts, von einer Lebensform in eine niedere Gestalt. Im letzten Lager haben sie einen alten Mönch mit Politik vollgestopft. Eines Morgens wachte er auf und stellte fest, daß er als Ziege wiedergeboren worden war. Ich habe ihn gesehen. Die Ziege hat sich in die Warteschlange zum Essen fassen eingereiht, und zwar genau an der Stelle, an der sonst der alte Priester gestanden hat. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es war so, wie ich euch sage. Eine Ziege. Die Wachen haben ihn mit dem Bajonett niedergestochen und ihn dann direkt vor unseren Augen auf einem Spieß gebraten. Am nächsten Tag haben sie einen Eimer Scheiße von der Latrine mitgebracht und gesagt: Seht nur, was jetzt aus ihm geworden ist.«

»Du brauchst die Chinesen gar nicht, um vom Weg abzukommen«, sagte Choje. »Allein dein Haß wird völlig dafür ausreichen.« Seine Stimme war sanft und fließend, wie Sand, der auf einen Stein rieselte.

Der khampa zuckte zurück. Aber der wilde Zorn lag weiterhin in seinem Blick. »Ich werde nicht als verdammte Ziege aufwachen. Vorher bringe ich jemanden um«, sagte er und starrte erneut wütend zu Shan herüber.