Shan fuhr mit den Fingern über die Schwielen an seinen Händen. Sie wurden bereits weich, schon nach so wenigen Tagen. Sein Blick richtete sich wieder auf die 404te, Die Gefangenen befanden sich auf dem Hang, und unterhalb von ihnen, am Ende der Brücke, hatte sich etwas verändert. Dort ragten drohend zwei riesige graue Panzer auf, neben denen die Mannschaftswagen der Kriecher standen. Die Häftlinge arbeiteten nicht. Sie warteten. Die Kriecher warteten ebenfalls. Rinpoche wartete. Sungpo wartete. Und jetzt wartete auch er selbst. Alles wegen des Bergs.
Aber Shan konnte nicht warten. Falls er nur abwartete, würde Sungpo von Tan vernichtet werden. Und die 404te würde den Kriechern zum Opfer fallen.
Er folgte dem Kamm zurück bis zur Abbruchkante am Drachenschlund. Aber die Felswand war nicht völlig senkrecht. Ein steiler schmaler Pfad, ein Ziegenpfad, führte in einer Reihe von Serpentinen bis zu einem Haufen Felsplatten neunzig Meter unter Shan. Langsam, denn ein Fehltritt würde einen tödlichen Sturz bedeuten, folgte er dem Pfad zu den Felsen. Sie waren vom Berg herabgefallen und hatten sich auf einem kleinen Vorsprung gesammelt, so daß eine windgeschützte Stelle entstanden war.
Shan trat hinaus auf eine große flache Platte und stellte fest, daß er genau auf die neue Drachenschlundbrücke schaute. Er war so nah dran, daß er nicht nur die laufenden Dieselmotoren der Panzer, sondern sogar vereinzelte Gesprächsfetzen der Wachen vom Abhang hören konnte.
Aus Angst, gesehen zu werden, wollte er wieder zurückweichen, als er plötzlich Kreidemarkierungen auf dem Felsen bemerkte. Es handelte sich um tibetische Schriftzeichen und buddhistische Symbole, obwohl er noch nie etwas Vergleichbares gesehen hatte. Er fertigte auf seinem Block eine Zeichnung davon an und trat zwischen zwei Platten, die so gefallen waren, daß sie ein umgekehrtes V und damit ein Dach bildeten. Er erstarrte. Im hinteren Teil des Unterschlupfes hatte man ein kreisförmiges Bild auf den Stein gemalt, ein kompliziertes Mandala, dessen Erstellung viele Stunden gedauert haben mußte. Davor stand eine Reihe kleiner Keramiktöpfe, wie man sie für Butterlampen benutzte. Sie waren alle zerbrochen. Aber sie waren nicht etwa zufällig kaputtgegangen. Man hatte sie in einer Reihe aufgestellt und dann nacheinander zertrümmert, wie bei einem Ritual.
Shan musterte erneut die Kreidezeichen. War der Pilger hiergewesen? Hatte der Pilger die 404te beobachtet? Er stieg wieder zum Kamm hinauf, weil er hoffte, einen weiteren Blick auf das rote Gewand zu erhaschen, aber der Pilger war nicht mehr zu sehen. Shan folgte dem Hang in südlicher Richtung und hielt nach Anzeichen Ausschau, die ihm verraten würden, welchen Weg der Pilger genommen hatte. Es gab noch einen weiteren Ziegenpfad, aber nichts, das auf Menschen oder einen Dämon schließen ließ.
Er hielt auf einen Felsvorsprung zu, der aus der Seite des Kamms ragte, und beschloß, daß er zu Feng und Yeshe zurückkehren würde, sobald er den Vorsprung erreicht hatte. Doch als er bei der großen Felsformation ankam, hörte er ein Blöken, das ihn weitergehen ließ. Hinter den Felsen befand sich an windgeschützter Stelle ein Teich. Eine kleine Schafherde lag am Rand des Wassers und genoß die Wärme. Die Tiere schauten ihm entgegen, wichen jedoch nicht zurück, als er sich näherte. Shan hockte sich am Wasser nieder und wusch sich das Gesicht. Dann legte er sich rücklings auf einen flachen Felsen, der die Sonnenhitze gespeichert hatte.
Ohne den Wind war die Sonne verführerisch. Einige Minuten lang schaute Shan den Tieren zu, nahm dann aus einer Laune heraus eine Handvoll Kiesel vom Boden neben dem Felsen und begann, die Steine abzuzählen Das war ein Trick, den sein Vater ihn gelehrt hatte. Lege immer sechs Steine beiseite, und die Anzahl die am Ende übrigbleibt, würde als unterste Ziffer des Tetragramms dienen, mit dessen Hilfe das Taoteking befragt wurde. Nach der ersten Runde hatte er noch vier Steine in der Hand, was einer durchbrochenen Linie aus zwei Segmenten entsprach. Nach drei weiteren Durchläufen hatte Shan ein Tetragramm aufgebaut, das aus zwei durchgehenden Linien über einer doppelt geteilten und eine einfach durchbrochenen Linie bestand. Im Tao-Ritual bedeutete dies Kapitel acht.
Am besten ist es, wie das Wasser zu sein. Der Wert des Wassers liegt darin, zu nähren ohne zu streben.
Er sprach die Worte laut und mit geschlossenen Augen.
Es bleibt an Orten, die andere verachten, und ist daher dem Gang der Dinge nah.
So hatte er es von seinem Vater gelernt. Sie benutzten Steine oder Reiskörner, schlossen dann die Augen und sprachen die Verse.
Shan ließ seinen Vater vor dem geistigen Auge erscheinen. Sie waren allein, nur sie beide, in dem geheimen Tempel in Peking, der ihnen durch so viele schwierige Jahre geholfen hatte. Sein Herz hüpfte vor Freude. Zum erstenmal seit mehr als zwei Jahren konnte er die Stimme seines Vaters hören, wie sie die Verse nachsprach. Die Stimme war noch immer da, nicht verloren, wie er befürchtet hatte, und wartete in einer entlegenen Ecke seines Verstands auf einen solchen Moment. Er roch den Ingwer, den sein Vater stets bei sich hatte. Falls er die Augen aufschlug, würde er dieses heitere Lächeln sehen, das dank des Stiefels eines Rotgardisten auf ewig schief bleiben würde. Shan lag regungslos da und erforschte ein fremdes Gefühl, von dem er beinahe glaubte, daß es Freude war.
Als er schließlich die Augen wieder öffnete, waren die Schafe verschwunden. Er hatte sie nicht gehen hören, und er konnte sie auf dem Abhang nicht entdecken. Mit friedlichem Gesichtsausdruck richtete er sich auf, drehte sich um und erstarrte. Auf einem Felssims über ihm saß eine kleine Gestalt, die in einen übergroßen Schaffellmantel gehüllt war und eine rote Wollmütze trug. Sie lächelte Shan überaus freundlich an.
Wie hatte der Mann sich so leise nähern können? Was hatte er mit den Schafen gemacht?
»Die Frühlingssonne ist am besten«, sagte die Gestalt mit einer Stimme, die stark, ruhig und hoch war. Das war kein Mann, sondern ein Junge, ein Jugendlicher.
Shan zuckte verunsichert die Achseln. »Deine Schafe sind verschwunden.«
Der Junge lachte. »Nein. Die Schafe glauben, daß ich verschwunden sei. Sie werden mich nachher schon finden. Wir halten sie nur deswegen, damit sie uns zu hochgelegenen Orten bringen. Eine Meditationstechnik, wenn man so will. Es ist jedesmal anders. Heute haben die Schafe mich zu dir geführt.«
»Eine Meditationstechnik?« fragte Shan, weil er nicht sicher war, ob er richtig gehört hatte.
»Du bist einer von ihnen, nicht war?« bemerkte der Junge auf einmal.
Shan wußte nicht, was er darauf antworten sollte.
»Han. Ein Chinese.« Es lag keinerlei Bosheit in den Worten des Jungen, nur Neugier. »Ich habe noch nie einen Chinesen gesehen.«
Shan starrte den Jungen verwirrt an. Sie befanden sich keine fünfundzwanzig Kilometer von der Bezirkshauptstadt entfernt. Bis zur nächsten Garnison der Volksbefreiungsarmee waren es rund dreißig Kilometer, und der Junge hatte noch nie einen Han- Chinesen zu Gesicht bekommen?
»Aber ich habe die Werke von Laotse studiert«, sagte der Junge und verfiel plötzlich in fließendes Mandarin.
Demnach war er die ganze Zeit hier gewesen. »Für jemanden, der noch nie einen Han gesehen hat, sprichst du sehr gut«, erwiderte Shan, ebenfalls auf Mandarin.
Der Junge schwang die Beine über die Kante. »Wir leben in einem Land der Lehrer«, stellte er sachlich fest. »Kapitel einundsiebzig«, sagte er und meinte damit wieder das Taoteking. »Kennst du die Einundsiebzig?«