Er spürte den wütenden Blick der Amerikanerin und ließ das Fernglas sinken.
»Mein Chefingenieur hat es mir gezeigt«, sagte sie in vorwurfsvollem Tonfall. »Das ist eines Ihrer Sträflingsprojekte. Sklavenarbeit.«
»Die Regierung setzt häufig Zwangsarbeiterkolonnen im Straßenbau ein«, sagte Yeshe auf einmal selbstgerecht. »Peking sagt, es schärfe das sozialistische Bewußtsein.«
»Ich habe mit der UN darüber gesprochen.«
»Ich für meinen Teil bin sehr für den internationalen Dialog«, sagte Shan. Er spürte, wie sich der Lauf einer Pistole in seinen Rücken bohrte. Sergeant Feng stand hinter ihm. Shan drehte sich um. Fengs ausgestreckter Daumen wies in seine Richtung, und die Augen des Soldaten glühten.
Fowler hatte den Zwischenfall verfolgt. Sie schien etwas sagen zu wollen, als plötzlich ein lautes Geheul von der Felswand widerhallte. Sie drehten sich um und sahen, wie die beiden Gestalten sich mit hoher Geschwindigkeit abseilten und dabei immer wieder von der Wand abstießen.
»Verrückter Narr«, murmelte Fowler. »Das ist Kincaid. Er schult die jungen Ingenieure. Bevor seine Zeit hier herum ist, hat er sich noch den Everest vorgenommen. Er will mit einem Team aus Tibetern hochsteigen.«
»Everest?« fragte Yeshe.
»Verzeihung«, erwiderte Fowler. »Chomolungma heißt er bei Ihnen. Mutter Berg.«
»Es heißt >Gottmutter der Welt<«, korrigierte Yeshe sie.
Als die Gestalten den Fuß der Felswand erreichten, machten sie freudige Luftsprünge und umarmten sich. Dann kamen sie den langen Wall entlang, der schlanke Mann mit den leuchtenden Augen und dem Pferdeschwanz, den Shan bei der Höhle gesehen hatte, und der junge Tibeter, der ihm am Steuer des Geländewagens und später in Tans Büro begegnet war.
»Ich bin Tyler«, stellte der Amerikaner sich vor. »Tyler Kincaid. Einfach nur Kincaid reicht aus.« Als er Sergeant Feng bemerkte, verschwand sein Lächeln. Sein Blick richtete sich auf die Pistole des Soldaten. »Das hier ist Luntok, einer unserer Ingenieure«, sagte er und wies beiläufig mit dem Daumen auf seinen Begleiter.
»Kincaid ist für den Zauber in den Teichen verantwortlich«, erklärte Fowler.
»Die Natur zaubert von ganz allein«, entgegnete er gelassen. Er sprach leicht gedehnt, wie Shan es bei den Schauspielern in amerikanischen Westernfilmen gehört hatte. »Ich liefere ihr bloß eine Gelegenheit.«
Nachdenklich musterte er Shan und senkte dann die Stimme.
»Sie waren bei der Höhle. Mit Tan«, sagte er anklagend. »Wir wollen wissen, was es mit dieser Höhle auf sich hat.«
»Ich ebenfalls. Ich muß wissen, weshalb Sie dort aufgetaucht sind.«
»Weil dort etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Weil es ein heiliger Ort ist«, sagte Kincaid.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Es ist eine jener Stellen, die von den Buddhisten als Orte der Macht bezeichnet werden. Am Ende eines Tals gelegen und nach Süden geöffnet. Daneben eine Quelle und ein großer Baum.«
»Demnach sind Sie bereits dort gewesen?«
Kincaid machte eine ausholende Geste in Richtung der Berge. »Wir klettern ziemlich oft in der Gegend herum. Luntok hat die Lastwagen gesehen. Aber auch ohne die Laster hätten wir dort etwas Wichtiges vermutet. Die Topographie ist zu eindeutig.«
Plötzlich ertönte ein Signalhorn und gab ein langes durchdringendes Heulen von sich, das in den Ohren schmerzte. Neben Fowler tauchte ein Arbeiter auf, der nach dem Lauf über den Wall vernehmlich nach Luft keuchte. »Es gibt einen Kampf!« rief er. »Sie werden die Ausrüstung zerstören!«
»Verfluchte BDKs!« herrschte Tyler seine Kollegin an. »Ich hab's dir doch gesagt!« Er rannte auf den Ort der Auseinandersetzung zu. Luntok folgte ihm dicht auf den Fersen.
Die tibetischen Arbeiter hatten sich in der Mitte des Tals aufgereiht. Ein riesiger grauer Bulldozer, auf dem ein halbes Dutzend von Tans Pionieren saß, war durch eine primitive Barrikade aus kleineren Wagen und Baggern aufgehalten worden. Die Soldaten ließen in schneller Folge das Signalhorn des Bulldozers erschallen, so daß es sich wie die Geschoßgarbe eines Maschinengewehrs anhörte. Die Tibeter saßen mit übergeschlagenen Beinen vor den Fahrzeugen auf dem Boden.
Kincaid lief zwischen die Linien, stellte sich zu den Tibetern und hielt den Soldaten eine Standpauke.
Shan streckte Rebecca Fowler das Fernglas entgegen. Sie nahm es nur zögernd. »Das hatte ich nicht beabsichtigt...«, sagte sie. »Falls jemand verletzt würde, könnte ich mir das niemals verzeihen.« Sie drehte sich zu Shan und wirkte beinahe überrascht, daß sie ihm dieses Geständnis gemacht hatte. Ihr Blick wurde flehentlich. »Sagen Sie ihnen, sie sollen gehen.«
»Wem?«
»Den Soldaten. Sagen Sie Tan, daß wir es irgendwie anders schaffen werden, den Zeitplan einzuhalten.«
»Es tut mir leid. Ich habe keinerlei Befehlsgewalt.«
»Natürlich haben Sie das«, wandte Yeshe ein. »Sie sind ein direkter Vertreter von Oberst Tan und werden ihm jedes Fehlverhalten melden.« Yeshe schien hin und her gerissen zu sein. Dann rannte er auf die Soldaten zu. Er würde nicht zulassen, daß ein Zwischenfall bei der Mine den Abschluß seines Auftrags verzögerte. Schließlich hatte der Mann ein Ziel, erinnerte Shan sich.
Die Soldaten ließen ihren Bulldozer immer wieder die Schaufel heben und senken, so daß die Maschine wie ein hungriges Ungeheuer wirkte, das gierig seine Beute verschlingen wollte. Kincaid lief hin und her, wies energisch auf die Teiche, die Berge und die Geräteschuppen.
»Mr. Kincaid ist ein ungewöhnlich eifriger Mann«, stellte Shan fest. Er bemerkte Fowlers verwirrten Blick. »Für einen Bergbauingenieur.«
»Tyler Kincaid ist ein Schatz. Er hätte überall für die Gesellschaft arbeiten können. New York. London. Kalifornien. Australien. Er hat sich für Tibet entschieden. Wir sind dreizehntausend Kilometer von zu Hause entfernt und versuchen, mit unerprobter Technik und einer unerprobten Belegschaft in unerprobtem Gelände eine Mine zu eröffnen. Bei so einem Projekt ist ein gewisser Arbeitseifer meines Erachtens unabdingbar.«
»Sie sagen, er hätte überall arbeiten können. Weil er so qualifiziert ist?«
»Erstens das und zweitens, weil seinem Vater die Firma gehört.«
Shan beobachtete, wie Tyler Kincaid zum Anführer der Soldaten ging, ihn bei den Schultern packte und schüttelte. Seinem Vater gehörte das Unternehmen, und Kincaid arbeitete an dem zweifellos weltweit entlegensten und unzugänglichsten Außenposten der Firma. »Er hat etwas erwähnt. BDKs. Was bedeutet das?«
»Das ist bloß seine Art, sich auszudrücken.«
»Aber wen meint er damit?«
»Die Bürokraten, schätze ich.« Sie erkannte, daß er sich damit nicht zufriedengeben würde, und zuckte die Achseln. »Ein BDK ist ein Beschissener Dreckskommunist«, erklärte sie und richtete dann ihre Aufmerksamkeit mit einem belustigten Grinsen wieder auf die Arbeiter.
Yeshe tauchte vor den Soldaten auf und deutete in Richtung Shan. Die Schaufel des Bulldozers verharrte in der Bewegung, und die Soldaten schauten mit spürbarer Unsicherheit zum Wall. Kincaid nutzte die Atempause, um zum Verwaltungsgebäude zu rennen, aus dem er sogleich wieder mit Höchstgeschwindigkeit zurückkehrte. Er trug einen schwarzen Kasten bei sich. Fowler hob das Fernglas, gab einen kurzen amüsierten Laut von sich und reichte es dann an Shan weiter.
Kincaid brachte einen tragbaren Kassettenrekorder. Er stellte ihn vor den Bulldozer hin und begann, amerikanische Rockmusik abzuspielen, und zwar dermaßen laut, daß Shan sie vom Wall aus hören konnte. Dann fing der amerikanische Ingenieur zu tanzen an.