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Die Luft in der dunklen Hütte roch intensiv nach Paraffin. Ein Geräusch war zu hören, als würden Mäuse über einen Felsboden huschen. Die Gebetsketten liefen auf Hochtouren. Jemand flüsterte Shans Namen, und eine Kerze wurde entzündet. Mehrere der Häftlinge setzten sich auf, ließen die Rosenkränze sinken und starrten ihn an. Die Müdigkeit war ihren Gesichtern deutlich anzusehen. Aber manche der Männer ließen noch etwas anderes erkennen. Widerstand. Es ängstigte Shan, aber es freute ihn auch.

Trinle sprang auf, sobald er Shan erblickte.

»Ich muß mit ihm sprechen«, bat Shan nachdrücklich. Choje lag völlig regungslos auf dem Bett hinter Trinle.

»Er ist sehr erschöpft.«

Plötzlich hob Choje die Hände und faltete sie über Mund und Nase. Dann atmete er dreimal tief durch. Das war für jeden frommen Buddhisten das Ritual des Erwachens. Das erste Mal atmete man aus, um die Sünde zu tilgen, das zweite Mal, um die Verwirrung zu beseitigen, und das dritte Mal, um die Hindernisse auf dem Weg der Wahrhaftigkeit beiseite zu schieben.

Choje setzte sich auf und begrüßte Shan mit einem kurzen Lächeln. Er trug ein Priestergewand, ein unerlaubtes Priestergewand, das man aus Sträflingshemden zusammengenäht und irgendwie gefärbt hatte. Wortlos stand er auf, trat in die Mitte des Raums und ließ sich im Lotussitz nieder. Trinle gesellte sich zu ihm, und Shan nahm zwischen ihnen Platz.

»Du bist schwach, Rinpoche. Ich hatte nicht vor, deine Ruhe zu stören.«

»Es gibt so viel zu tun. Heute hat jede Hütte zehntausend Rosenkränze gebetet. Viele der Männer haben sich vorbereitet. Morgen werden wir versuchen, noch mehr zu schaffen.«

Shan biß die Zähne zusammen und kämpfte gegen seine Gefühle an. »Vorbereitet?«

Choje lächelte nur.

Ein seltsames scharrendes Geräusch durchbrach die Stille.

Shan fuhr herum. Einer der jungen Mönche drehte ehrfürchtig eine Gebetsmühle, die man aus einer Blechdose und einem Bleistift angefertigt hatte.

»Bekommst du zu essen?« fragte Shan.

»Die Küche wurde geschlossen«, erklärte Trinle. »Es gibt nur Wasser. Am Tor werden mittags Eimer hingestellt.«

Shan zog die Papiertüte aus der Manteltasche, in der sich sein aufgespartes Mittagessen befand. »Ein paar Klöße.«

Choje nahm die Tüte feierlich entgegen und reichte sie Trinle, damit dieser den Inhalt verteilte. »Wir danken dir. Wir werden versuchen, etwas davon an diejenigen im Stall weiterzugeben.«

»Sie haben den Stall aufgemacht«, flüsterte Shan. Es war keine Frage, sondern eine qualvolle Feststellung.

»Drei der Mönche aus einem gompa im Norden. Sie haben vor dem Tor gesessen und eine Teufelsaustreibung gefordert.«

»Ich habe die Truppen draußen gesehen. Sie wirken ungeduldig.«

Choje zuckte die Achseln. »Sie sind jung.«

»Sie werden nicht damit alt werden, auf streikende Häftlinge zu warten.«

»Was können sie schon erwarten? Da ist ein verärgerter jungpo. Es würde nur einen Tag dauern, das Gleichgewicht wiederherzustellen.«

»Oberst Tan wird Exorzismus auf dem Berg niemals zulassen. Es wäre für ihn eine Niederlage, und er würde vor aller Augen in Verlegenheit gebracht.«

»Dann wird dein Oberst eben mit allen beiden leben müssen.« In Chojes Stimme schwang keinerlei Trotz mit, sondern lediglich ein Anflug von Mitleid.

»Mit allen beiden«, wiederholte Shan. »Du meinst Tamdin.«

Choje seufzte und schaute sich in der Hütte um. Da war noch ein anderes ungewohntes Geräusch. Shan drehte sich um und sah den khampa neben der Tür sitzen. Die Augen des Mannes funkelten angsteinflößend.

»Holst du uns hier raus, Zauberer?« fragte er Shan. Er hatte den Griff von seiner Blechschale abgebrochen und schärfte ihn an einem Stein. »Wieder einer deiner Tricks? Läßt du die Kriecher alle verschwinden?« Er lachte und fuhr mit seiner Tätigkeit fort.

»Trinle hat seine Pfeilmantras geübt«, merkte Choje an und musterte den khampa mit betrübtem Blick. Ein Pfeilmantra war laut der alten Legenden ein Zauberspruch, durch den die Zielperson innerhalb kürzester Zeit über große Entfernungen transportiert wurde. »Er wird sehr gut dann. Eines Tages wird er uns überraschen. Ich habe als Junge einmal beobachtet, wie ein alter Lama den Ritus vollführt hat. Auf einmal verschwamm seine Gestalt, und dann war er verschwunden. Wie ein Pfeil, der von einer Bogensehne schnellt. Eine Stunde später war er wieder da und trug eine Blume bei sich, die nur bei einem achtzig Kilometer entfernten gompa wuchs.«

»Also wird Trinle dich mit Pfeilgeschwindigkeit verlassen?« fragte Shan und konnte seine Ungeduld nicht verhehlen.

»Trinle weiß so vieles. Ein Teil des Wissens muß erhalten bleiben.«

Shan seufzte tief, um sich selbst zu beruhigen. Choje klang so, als würde der Rest ihrer Welt nicht überleben. »Ich muß mehr über Tamdin wissen.«

Choje nickte. »Manche sagen, Tamdin sei noch nicht fertig.« Er blickte Shan traurig in die Augen. »Er wird keine Gnade zeigen, falls er noch einmal zuschlägt. Zu Zeiten des Siebenten«, sagte Choje und meinte damit den siebten Dalai Lama, »wurde eine komplette mandschurische Armee vernichtet, als sie in Tibet einfiel. Auf ihrem Vormarsch ist ein Berg über ihnen zusammengestürzt. Die Schriften sagen, es sei Tamdin gewesen, der den Berg umgestoßen hat.«

»Rinpoche, hör mir bitte gut zu. Glaubst du an Tamdin?«

Choje sah Shan mit großer Wißbegierde an. »Der menschliche Körper ist solch ein unvollständiges Gefäß für den Geist. Mit Sicherheit ist im Universum noch ausreichend Platz für viele andere Behältnisse.«

»Aber glaubst du an einen leibhaftigen Dämon, der in den Bergen umgeht? Ich muß erfahren, ob... ob es irgendeine Möglichkeit gibt, dies alles zu beenden.«

»Du stellst die falsche Frage«, erwiderte Choje sehr langsam und im gleichen Tonfall, in dem er sonst Gebete sprach. »Ich glaube, daß die Essenz, die man Tamdin nennt, in der Lage ist, von einem Menschen Besitz zu ergreifen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Wenn es manche gibt, die Buddhaschaft erlangen, so gibt es vielleicht andere, denen die Tamdinschaft vorherbestimmt ist.«

Shan barg den Kopf in beide Hände und kämpfte gegen eine überwältigende Müdigkeit an. »Falls es eine Hoffnung geben soll, muß ich mehr davon verstehen.«

»Du mußt lernen, es zu bezwingen.«

»Was soll ich bezwingen?«

»Diese Sache namens Hoffnung. Du bist noch immer ganz davon erfüllt, mein Freund. Sie läßt dich irrtümlich glauben, du könntest die ganze Welt besiegen. Sie lenkt dich von weitaus wichtigeren Dingen ab, und sie läßt dich glauben, die Welt wäre von Opfern, Schurken und Helden bevölkert. Aber das ist nicht unsere Welt. Wir sind keine Opfer, sondern fühlen uns vielmehr geehrt, daß unser Glaube auf die Probe gestellt wird. Falls es uns bestimmt ist, von den Kriechern vernichtet zu werden, dann ist das eben unsere Bestimmung. Weder Hoffnung noch Angst werden etwas daran ändern.«

»Rinpoche, mir fehlt die Kraft, nicht zu hoffen.«

»Manchmal mache ich mir Sorgen um dich«, sagte Choje. »Ich fürchte, daß du zu sehr nach Antworten suchst.«

Shan nickte traurig. »Ich weiß nicht, wie man nicht danach suchen kann.«

Choje seufzte. »Sie haben einen Lama verhaftet«, sagte er. »Einen Einsiedler aus dem Kloster Saskya.«

Shan hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich zu fragen, auf welche Weise Informationen sich innerhalb der tibetischen Bevölkerung und über Gefängnismauern hinweg verbreiteten. Es war beinahe so, als würden die Tibeter eine geheime Form der Telepathie praktizieren.

»Ist dieser Lama der Täter?« fragte Choje.

»Du glaubst, ein Lama wäre zu einer solchen Tat fähig?«