»Jeder Geist kann einen Fehltritt tun. Buddha persönlich mußte gegen zahllose Versuchungen ankämpfen, bis er schließlich die Verwandlung erfuhr.«
»Ich habe diesen Lama gesehen«, sagte Shan ernst. »Ich habe ihm ins Gesicht geschaut. Er hat es nicht getan.«
»Ah«, seufzte Choje und verstummte. »Ich verstehe«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Du mußt die Freilassung dieses Lama erreichen, indem du beweist, daß der Mord von dem Dämon Tamdin begangen wurde.«
»Ja«, gab Shan mit leiser Stimme schließlich zu und sah in seine Hände.
Die beiden Männer saßen schweigend da. Vor irgendwo außerhalb der Hütte war ein langes geisterhaftes Stöhnen zu vernehmen, als leide jemand unsägliche Schmerzen.
Yeshe weigerte sich, als Shan ihm am nächsten Morgen seine Aufgabe erklärte. »Allein die Frage nach einem Zauberer könnte mich hinter Gitter bringen«, klagte er.
Feng fuhr sie durch die niedrigen Hügelgebiete und Heideflächen, die den Weg in die Stadt säumten. Eine gewundene Reihe von Weiden und hohen Riedgräsern markierte den Verlauf des Flusses, der nach den zahlreichen Kaskaden im Drachenschlund nun mit etwas gemächlicherer Geschwindigkeit durch das Tal floß. Sie passierten eine Stelle, an der Bulldozer einen Hügel eingeebnet hatten, damit einige Reihen inzwischen absterbender Gewächse angepflanzt werden konnten Wind und Trockenheit hatten die Pflanzen dermaßen gebeugt und verdreht, daß man nicht mehr zu erkennen vermochte, worum es sich handelte. Ein weiterer fehlgeschlagener Versuch, etwas von außerhalb hier Wurzeln schlagen zu lassen, das Tibet weder brauchte noch wollte.
»Wofür hat man Sie bestraft?« fragte Shan den Tibeter. »Weshalb wurden Sie zu Zwangsarbeit verurteilt?«
Yeshe antwortete nicht.
»Warum haben Sie nach wie vor Angst vor ihnen? Man hat Sie doch freigelassen.«
»Jeder geistig gesunde Mensch hat Angst vor ihnen.« Yeshe grinste anzüglich.
»Es geht um Ihre Reisepapiere, nicht wahr? Sie glauben, Sie werden sie nicht bekommen, falls Sie mit mir zusammenarbeiten Ohne neue Reisepapiere werden Sie niemals aus Tibet herauskommen, nie eine standesgemäße Anstellung in Sichuan erhalten und sich nie Ihren neuen Fernsehapparat kaufen können.«
Yeshe schien sich über diese Vorhaltungen zu ärgern, aber er stritt sie nicht ab. »Es ist falsch, diese Leute, die Zauberformeln benutzen, auch noch zu bestärken«, sagte er. »Sie sorgen dafür, daß Tibet einem früheren Jahrhundert verhaftet bleibt. So wird es für uns ganz bestimmt keinen Fortschritt geben.«
Shan starrte Yeshe an, sagte jedoch nichts. Yeshe rutschte auf seinem Sitz herum und schaute mißmutig zum Fenster hinaus. Auf der Straße ging eine Frau, die sich in einen großen Filzumhang gewickelt hatte, und führte an einem Seil eine Ziege hinter sich her.
»Soll ich Ihnen sagen, woraus die Geschichte Tibets bestanden hat?« fragte Yeshe mürrisch und schaute dabei weiterhin aus dem Fenster. »Aus einem einzigen langen Machtkampf zwischen Priestern und Zauberern. Die Geistlichen verlangen, daß wir nach Vollkommenheit streben. Doch der Weg zur Vollkommenheit ist sehr lang. Die Zauberer bieten Abkürzungen an. Sie ziehen ihre Macht aus der Schwäche des Volkes, und das Volk ist ihnen auch noch dankbar dafür. Manchmal sitzen die Priester am Ruder und errichten ihr Ideal. Dann wieder herrschen die Zauberer und ruinieren das Ideal, obgleich sie vorgeben, in dessen Namen zu handeln.«
»Darum geht es also in Tibet?«
»Das ist der Antrieb der Gesellschaft. In China ist es das gleiche, denn ihr habt auch eure Zauberer. Nur daß ihr sie Sekretär Sowieso und Minister Irgendwas nennt. Mit einem kleinen roten Zauberbuch, verfaßt vom Vorsitzenden persönlich. Dem Oberzauberer.«
Auf einmal blickte Yeshe bestürzt auf, denn ihm wurde plötzlich klar, daß Feng ihm womöglich zugehört hatte. »Ich hatte nicht vor...«, stotterte er und drehte sich wieder zum Fenster um.
»Demnach jagen diese Schüler von Khorda Ihnen Angst ein, nicht wahr?« fragte Shan. Vielleicht sollten sie alle lieber Angst haben, erkannte er. Falls du Tamdin erreichen willst, hatte Choje gesagt, dann sprich mit Khordas Lehrlingen.
»Schüler? Wer hat hier was von Schülern gesagt? Das ist gar nicht nötig. Die Leute erzählen andauernd von dem alten Zauberer. Er lebt, wenn man das so nennen will. Es heißt, er brauche nicht zu essen. Manche behaupten, er brauche nicht einmal zu atmen. Aber wir werden seinen Unterschlupf ausfindig machen müssen.«
»Unterschlupf?«
»Sein Versteck. Es könnte eine Höhle hoch in den Bergen sein, vielleicht aber auch der Marktplatz. Er ist sehr geheimnistuerisch und bleibt ständig in Bewegung, huscht von Schatten zu Schatten. Man sagt, er könne sich in Luft auflösen wie ein schmaler Rauchfetzen. Wir werden vermutlich etwas Zeit benötigen.«
»Gut. Der Sergeant und ich gehen erst zum Restaurant und dann zu Ankläger Jaos Haus. Danach ins Büro des Oberst. Kommen Sie dorthin, sobald Sie den Zauberer gefunden haben.«
»Dieser Khorda wird niemals bereit sein, mit einem Ermittler zu sprechen.«
»Dann sagen Sie ihm die Wahrheit. Erzählen Sie ihm, daß ich ein geplagter Mann bin, der etwas Magie dringend nötig hat.«
Als Shan eintraf, wollte das Restaurant soeben schließen. »Haben Sie Ankläger Jao gekannt?« rief er dem Oberkellner durch einen Spalt in der Tür zu.
»Ja. Gehen Sie.«
»Er hat hier vor fünf Tagen mit einer Amerikanerin zu Abend gegessen.«
»Er hat oft hier gegessen.«
Shan legte eine Hand auf den Türgriff. Der Mann schien die Tür erst zudrücken zu wollen, aber dann sah er Feng und gab nach. Eilig zog er sich durch den vorderen Flur zurück.
Shan trat ein und folgte dem Schatten des fliehenden Kellners. Im Gang hockten einige Hilfskellner. In der Küche wich jeder seinem Blick aus.
Er holte den Mann ein, als dieser durch eine Seitentür wieder den Speiseraum betrat. »Hat jemand an dem betreffenden Abend eine Nachricht überbracht?« fragte Shan den Kellner, der seinen unbeholfenen Rückzug weiter fortsetzte, Tabletts aufnahm und nervös nach ein paar Schritten wieder abstellte, nur um kurz darauf einen Stapel Teller vom Tresen zu nehmen.
»He, Sie da!« rief Sergeant Feng von der Türöffnung aus.
Der Mann zuckte zusammen und ließ vor Schreck die Teller fallen, die auf dem Boden in tausend Stücke zerbrachen. Er blickte verzweifelt auf die Scherben. »Das weiß niemand mehr. Es war viel zu tun.«
Der Mann begann zu zittern.
»Wer ist hier gewesen? Jemand war bereits vor mir da. Jemand hat Ihnen gesagt, Sie sollen nicht mit mir sprechen.«
»Das weiß niemand mehr«, wiederholte der Kellner.
Als Feng sich anschickte, den Raum zu betreten, hob Shan beschwichtigend die Hand und ging weg.
»Wer wird die Teller bezahlen?« klagte der Kellner hinter ihm. Shan konnte ihn noch immer wie ein Kind schluchzen hören, als er zur Tür hinausging und wieder in den Wagen einstieg.
Ankläger Jao hatte in einem kleinen Haus im Regierungsbezirk auf der neuen Seite der Stadt gewohnt, einem quadratischen Stuckgebäude mit zwei Zimmern und einer separaten Küche. In Tibet war dies gleichbedeutend mit einer vornehmen Villa.
Shan blieb am Eingang stehen und bemerkte, daß das Heidekraut entlang der Hauswand kürzlich niedergetrampelt worden war. Die Tür stand ein kleines Stück offen. Er stieß sie mit dem Ellbogen auf und achtete darauf, keinesfalls die Fingerabdrücke zu verwischen, die sich eventuell auf dem Türgriff befinden mochten. Er hoffte, hier vielleicht eine Antwort auf die Frage zu finden, weshalb Ankläger Jao den Umweg zur Südklaue eingeschlagen hatte. Zumindest würde er einen Eindruck von Jao dem Privatmann bekommen, was Shan helfen könnte, die Interessen und Antriebe des Ermordeten nachzuvollziehen.
Es war ein ordentliches, anonymes Zimmer. Auf einem kleinen Tisch in der Ecke lag unter einem Poster der Hongkonger Skyline ein dekoratives Mah-Jongg-Spiel. Die einzigen weiteren Einrichtungsgegenstände waren zwei große, dick gepolsterte Sessel. Shan blieb verblüfft stehen. Auf einem der Sessel saß zusammengesackt ein junger Mann und schlief tief und fest.