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»Wir müssen hier nur selten vollständige Autopsien durchführen«, flüsterte sie und zog eine Rollampe an den Rand des Tisches. Es sollte wohl so eine Art Entschuldigung darstellen.

Sergeant Feng ging draußen im Korridor auf und ab, während sie die Kopfhaut untersuchte.

»Da haben wir's«, sagte sie schließlich. »Hinter dem rechten Ohr. Eine lange gezackte Quetschung. Ein Stück der Haut ist aufgeplatzt.«

»Ein Knüppel? Ein Schlagstock?«

»Nein, etwas mit unebener Oberfläche. Könnte ein Stein gewesen sein.«

Shan zog die Karte hervor, die der Ankläger bei sich getragen hatte. »Wissen Sie, weshalb Jao mit jemandem gesprochen haben könnte, der Röntgenapparate verkauft?«

Sung musterte das kleine Stück Karton. »Amerikanische Geräte?« fragte sie und gab ihm die Karte zurück. »Zu teuer für Tibet.« Sie zog einen Schreibblock aus der Tasche und machte sich eifrig Notizen.

»Warum könnte er sich für solche Geräte interessieren?«

Sie zuckte die Achseln. »Das muß wohl mit einer seiner Untersuchungen zu tun gehabt haben.« Sie stellte den Kragen ihrer Bluse auf, als sei ihr plötzlich kalt geworden.

»Was ist mit den Amerikanern bei der Mine? Würden die mit solchen Apparaten etwas anfangen können?«

Sung schüttelte den Kopf. »Die müssen wie alle anderen hierher ins Krankenhaus kommen. Die Zuteilung der medizinischen Ressourcen ist sorgfältig geplant.«

»Und was bedeutet das?« fragte Shan.

»Es bedeutet, daß die produktivsten Angehörigen des Proletariats zuerst versorgt werden müssen.«

Shan starrte sie ungläubig an. Sie betete hier argwöhnisch einen Leitsatz herunter, als würden sie sich in einer tamzing- Sitzung befinden. »Die produktivsten Angehörigen, Doktor?«

»Es gibt ein Memo aus Peking. Ich kann es Ihnen zeigen. Darin steht, daß die Tibeter permanente Hirnschäden erleiden, weil sie ihre Kindheit in sauerstoffarmen Höhenlagen verbringen.«

Shan wollte sich damit nicht zufriedengeben. »Sie sind eine Absolventin der Bei Da-Universität, Doktor. Der Unterschied zwischen medizinischer und politischer Wissenschaft ist Ihnen doch sicherlich bewußt.«

Sie erwiderte seinen Blick einen Moment lang und schaute dann zu Boden.

»Das hier ist bestimmt nicht einfach«, kam Shan ihr entgegen. »Eine Autopsie an einem Freund vorzunehmen.«

»Freund? Jao und ich haben hin und wieder ein paar Worte gewechselt. Meistens ging es bloß um irgendwelche Ermittlungen oder Amtspflichten. Und er hat Witze erzählt. In Tibet bekommt man nur selten Witze zu hören.«

»Zum Beispiel?«

Sung dachte kurz nach. »Den hier weiß ich noch. Warum sterben Tibeter jünger als Chinesen?« Sie sah ihn erwartungsvoll an, und ihr Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Weil sie es so wollen.«

»Ermittlungen. Sie meinen Morde?«

»Man liefert mir hier Tote an. Mord, Selbstmord, Unfall. Ich fülle lediglich die Formulare aus.« »Aber unser Formular wollten sie nicht ausfüllen.«

»Manchmal ist es schwierig, das Offensichtliche zu ignorieren.«

»Und bei den anderen? Sind Sie denn nie neugierig?« fragte er.

»Neugier kann sehr gefährlich sein, Genosse.«

»Wie viele Unfalltode haben Sie in den letzten beiden Jahren untersucht?«

»Meine Aufgabe besteht darin, Ihnen über diesen Toten hier Auskünfte zu erteilen«, erwiderte Sung stirnrunzelnd. »Mehr nicht.«

»Richtig. Schließlich haben Sie für die anderen Fälle ja Ihre Formulare.«

Sung hob kapitulierend beide Hände. »Also, ich kann mich noch an drei erinnern, die beim Klettern abgestürzt sind. Vier wurden von einer Lawine verschüttet. Ein Erstickungstod. Vier oder fünf bei Verkehrsunfällen. Einer ist verblutet. Es fällt nicht in meinen Verantwortungsbereich, darüber Buch zu führen. Außerdem betreffen diese Fälle größtenteils die Han- Bevölkerung. Die örtlichen Minderheiten«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Blick, »machen nur selten von den Einrichtungen Gebrauch, die ihnen von der Volksregierung zur Verfügung gestellt werden.«

»Der Erstickungsfall?«

»Der Direktor des Büros für Religiöse Angelegenheiten ist in den Bergen gestorben.«

»Höhenkrankheit?«

»Er hat nicht genug Sauerstoff bekommen«, räumte Sung ein.

»Aber das wäre eine natürliche Todesursache.«

»Nicht unbedingt. Er hat nach einem Schlag auf den Kopf das Bewußtsein verloren. Bevor er sich davon erholen konnte, hat jemand seine Luftröhre mit Kieseln vollgestopft.« »Kieseln?« Shan fuhr auf.

»Wirklich rührend«, sagte Sung mit einem morbiden Lächeln. »Das war die traditionelle Methode, um Angehörige des Königshauses zu töten.«

Shan nickte langsam. »Weil es niemandem gestattet war, ihnen Gewalt anzutun. Gab es eine Verhandlung?«

Sung zuckte abermals die Achseln. Es schien ihre Lieblingsgeste zu sein. »Ich glaube ja. Gegen ein paar üble Elemente. Sie wissen schon, Protestler.«

»Was für Protestler?«

»Keine Ahnung. An die Gesichter kann ich mich nicht erinnern. Falls man es verlangt, gehe ich hin und lese dem Gericht meine medizinischen Berichte vor. Es ist immer das gleiche.«

»Sie meinen, Sie lesen immer Ihre Berichte vor. Und dann wird immer ein Tibeter verurteilt.«

Sungs einzige Antwort war ein wütender Blick.

»Ihr Pflichtbewußtsein ist wirklich begeisternd«, sagte Shan.

»Ich würde gern eines Tages nach Peking zurückkehren, Genosse. Wie steht's mit Ihnen?«

Shan ignorierte die Frage. »Derjenige, der verblutet ist. Ich vermute, er hat sich eigenhändig fünfzig tödliche Stichwunden beigebracht.«

»Nicht ganz«, sagte Sung und funkelte ihn böse an. »Sein Herz wurde herausgeschnitten. Ich habe da eine bestimmte Theorie.«

»Eine Theorie?« fragte Shan mit einem Funken Hoffnung.

»Es war kein Selbstmord.« Auf dem Weg nach draußen stieß sie dermaßen heftig die Tür auf, daß Sergeant Feng beiseite springen mußte.

Zwanzig Minuten später stand Shan in Tans Büro. Er war im Warteraum an Yeshe vorbeigegangen und hatte dessen aufgeregtes Flüstern ignoriert.

»Deine Dreistigkeit, Häftling Shan, wird nur von der Größe des Chomolungma übertroffen«, erklärte Tan.

»Wissen Sie ganz bestimmt, daß die Fälle nicht miteinander in Verbindung stehen?«

»Unmöglich«, knurrte der Oberst. »Die Fälle sind abgeschlossen. Du solltest eigentlich ein Loch auffüllen und nicht ständig neue schaufeln.«

»Aber falls ein Zusammenhang... «

»Es gibt keinen.«

»Die Fünf von Lhadrung werden sie von den Leuten genannt. Sie selbst haben sie erwähnt, Oberst. Ich habe es zuerst nicht verstanden, als Sie sagten, die Protestler würden Ihre Befürchtung immer wieder bestätigen, daß Sie nach den Daumen-Aufständen zu nachsichtig vorgegangen seien. Der Grund ist, daß diese Leute erneut verhaftet werden. Als Mordverdächtige.«

»Die Kultanhänger der Minderheit haben Schwierigkeiten, sich an unsere Gesetze zu halten. Vermutlich ist das Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen.«

»Wie viele der Fünf wurden wegen Mordes verhaftet?«

»Das beweist nur, daß es ein Fehler war, sie beim erstenmal freizulassen.«

»Wie viele?«

»Sungpo ist der vierte.«

»Jao hat sie angeklagt?«

»Natürlich.«

»Diese Verbindungen kann man nicht ignorieren. Das Ministerium würde es jedenfalls bestimmt nicht tun.«

»Ich erkenne keine Verbindungen.«

»Die fünf waren alle hier in Lhadrung und wurden gemeinsam verurteilt und inhaftiert. Eine Verbindung. Dann werden, einer nach dem anderen, vier davon des Mordes beschuldigt. Eine Verbindung. Die ersten drei werden von Jao angeklagt, dem vierten legt man den Mord an Jao zur Last. Eine Verbindung. Ich benötige Informationen über diese drei anderen Fälle. Vielleicht ist der Schlüssel zu allem in einer Verschwörung zu finden.«