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Oberst Tan nahm Shan mißtrauisch in Augenschein. »Bist du gewillt, eine buddhistische Verschwörung aufzudecken?«

»Ich bin gewillt, die Wahrheit herauszufinden.«

»Hast du schon mal von denpurbas gehört?« fragte Tan.

»Ein purba ist ein Zeremoniendolch, wie er in buddhistischen Tempeln benutzt wird.«

»Es ist auch der Name, den sich eine neue Widerstandsgruppe gegeben hat. Zumeist Mönche, obwohl sie nicht vor Gewalt zurückzuschrecken scheinen. Von ganz besonderem Schlag. Natürlich gibt es eine Verschwörung. Von buddhistischen Gewalttätern wie den purbas, mit dem Ziel, Regierungsbeamte zu ermorden.«

»Heißt das, die anderen Opfer waren ebenfalls Beamte?«

Tan zündete sich eine Zigarette an und musterte Shan nachdenklich. »Es heißt, daß du dir durch deine Paranoia nicht den Blick aufs Wesentliche verstellen lassen solltest.«

»Aber was ist, wenn es sich um etwas anderes handelt? Was ist, wenn die Fünf von Lhadrung selbst zu Opfern einer Verschwörung geworden sind?«

Tan winkte ungehalten ab. »Zu welchem Zweck denn?«

»Um ein größeres Verbrechen zu verschleiern. Ohne Kenntnis der anderen Fälle kann ich vorerst nichts Genaueres dazu sagen.«

»Die anderen Morde wurden alle aufgeklärt. Vergiß das nicht.«

»Was ist, wenn es noch ein weiteres Muster gibt?«

»Ein Muster?« Wenn er den Rauch ausatmete, wirkte Tan wie ein Drache. »Wen kümmert das schon?«

»Bei lediglich zwei Morden läßt sich noch kein Muster feststellen. Manchmal auch bei drei noch nicht. Aber jetzt haben wir vier. Vielleicht war bislang etwas unsichtbar, das sich nun erkennen läßt. Was ist, falls das Ministerium zu dieser Erkenntnis gelangt; immerhin liegen dort alle Akten vor? Vier Morde innerhalb weniger Monate. Vier der fünf bekanntesten Dissidenten des Bezirks werden wegen dieser Morde vor Gericht gestellt, aber man unternimmt keinerlei Anstrengung, eine mögliche Verbindung zwischen den Fällen zu untersuchen. Und unter den Opfern befinden sich mindestens zwei der wichtigsten Funktionäre des Bezirks. Zwei oder drei könnte man eventuell noch als Zufall abtun. Vier Morde sehen schon nach einer Welle von Verbrechen aus. Fünf jedoch würden wie fahrlässiger Leichtsinn wirken.«

Ein Muster, hielt Shan sich erneut vor Augen, als er Yeshe und Feng auf den bevölkerten Marktplatz folgte. Es gab ein Muster, davon war er fest überzeugt. Er wußte es instinktiv, so wie ein Wolf vielleicht eine Beute auf der anderen Seite des Waldes wittern würde. Aber woher kam diese Ahnung? Warum war er sich so sicher?

Der Markt bestand aus einem Durcheinander aus Verkaufsständen und Hausierern, die ihre Waren auf Decken am Boden feilboten. Shan riß erstaunt die Augen auf und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Hier vor ihm herrschte mehr Leben, als er es in den letzten drei Jahren gesehen hatte. Eine Frau hielt Garn aus Yak-Haaren in der ausgestreckten Hand, eine andere rief den Preis für Töpfe voller Ziegenbutter. Shan beugte sich hinunter und berührte einen Korb mit Eiern. Seit seiner Zeit in Peking hatte er kein einziges Ei mehr gegessen. Er hätte den Korb stundenlang anstarren können. Diese wunderbaren Eier. Ein alter Mann bot eine Vielzahl kunstvoller tormas an, der Bildnisse aus Butter und Teig, die als Opfergaben Verwendung fanden. Kinder. Shans Blick fiel auf eine Schar Kinder, die mit einem Lamm spielten. Er kämpfte gegen den Wunsch an, zu den Kindern zu gehen und eines davon zu berühren, nur um sich zu vergewissern, daß es eine solche Jugend und Unschuld immer noch gab.

Sergeant Fengs Hand auf seiner Schulter holte Shan auf den Boden der Tatsachen zurück, und er ging zwischen den Ständen weiter. Die Fragen tauchten wieder auf, der Eindruck, es gebe ein Muster. Lag es nur an seinem Wissen, daß ein Mann wie Sungpo keinen Mord begehen würde? Nein. Da war noch etwas. Wenn es nicht Sungpo war, dann war es eine Verschwörung. Aber wessen Verschwörung? Die der Beschuldigten? Oder die der Beschuldiger? Würde er der Welt beweisen, daß die Mönche schuldig waren, und sich dafür auf ewig Selbstvorwürfe machen? Oder würde er nachweisen, daß sie unschuldig waren, und dafür bis in alle Ewigkeit von der Regierung bestraft werden?

Feng kaufte einen Spieß mit gerösteten Holzäpfeln. Ein Mann mit einem milchigweißen Auge drehte eine Gebetsmühle und bot Krüge voller chang an, dem tibetischen Bier, das aus Gerste hergestellt wurde. Neben einem einzelnen Mädchen mit hüftlangen Zöpfen war Yakkäse aufgestapelt, hart, trocken und schmutzig. Ein Junge verkaufte Plastiktüten voller Joghurt, ein alter Mann irgendwelche Tierhäute. Shan bemerkte, daß die meisten Tibeter sich kleine Heidekrautzweige an die Gewänder gesteckt hatten. Ein einarmiges Mädchen rief ihnen zu, sie sollten ein Stück Seide kaufen, das man als khata benutzen konnte. Die Luft roch beißend nach gebuttertem Tee, Weihrauch und ungewaschenen Menschen.

Ein Trupp Soldaten überprüfte die Papiere eines drahtigen Mannes, der sich rastlos umschaute und in seinem Gürtel einen Dolch nach traditioneller Art der khampa trug. Als die Soldaten näher kamen, packte er nicht etwa den Dolch, sondern ein Amulett, das um seinen Hals hing, das gau-Medaillon, in dem sich vermutlich die Anrufung eines Schutzgeistes befand. Man ließ ihn weitergehen. Als der Mann dankbar sein gau tätschelte, fiel es Shan plötzlich wieder ein: Die Anwohner hatten sich über die Sprengungen beschwert, weil Tamdin dadurch verärgert worden sei. Fowler hatte gesagt nein, sie hätten erst vor sechs Monaten mit den Sprengungen angefangen. Das bedeutete, Tamdin war schon vor mehr als sechs Monaten gesehen worden. Tamdin war bereits davor verärgert gewesen. Ein Muster. Hatte Tamdin zuvor schon gemordet?

Yeshe blieb am anderen Ende des Marktes neben einem Laden stehen, dessen Eingang von einem dreckigen Teppich verdeckt wurde, der über zwei hohen Pfosten hing. Sergeant Feng musterte den dunklen Innenraum des Geschäfts und runzelte die Stirn. Mehr als ein chinesischer Soldat war an Orten wie diesem bereits in einen Hinterhalt geraten. Er wies auf einen Teeverkäufer in der Mitte des Marktplatzes. »Ich trinke zwei Tassen, mehr nicht.« Dann griff er in seine Hemdtasche und holte eine Trillerpfeife hervor, die an einer Kordel hing. »Danach alarmiere ich die Streife.« Er zog mit den Zähnen einen Apfel vom Spieß und ging weg.

Das Gebäude hatte keine Fenster und keinen anderen Eingang als den, durch den sie hereingekommen waren. Der Innenraum wurde lediglich von Butterlampen erhellt, deren trübes Licht durch Weihrauchschwaden noch zusätzlich gedämpft wurde. Als Shans Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er mehrere Regale voller Töpfe und Krüge. Er befand sich in dem Laden eines Kräuterkundigen. Hinter einem breiten Brett, das auf zwei hochkant stehenden Kisten lag, saß eine ausgemergelte Frau. Sie warf Shan und Yeshe einen leeren Blick zu. Vor der rechten Wand saßen drei Männer absolut regungslos auf dem Lehmboden. Shan folgte Yeshes Blick nach links, in die dunkelste Ecke des Raums. Auf einem roh behauenen Tisch stand ein schmutziger kegelförmiger Hut, dessen Krempe nach oben gebogen war. Dahinter befand sich ein dunklerer Schatten, der die Form eines Tiers hatte, vielleicht ein großer Hund. »Der Hut eines Zauberers«, flüsterte Yeshe nervös. »Ich habe keinen mehr gesehen, seit ich ein kleiner Junge war.«

»Du hast nichts von einem Chinesen gesagt«, rief die alte Vettel. Bei diesen Worten sprang einer der Männer vom Boden auf und packte einen dicken Stock, der an den Regalen lehnte.

Yeshe legte Shan eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. »Der ist in Ordnung«, erwiderte er fahrig. »Er ist nicht so.«

Die Frau musterte Shan mit eisigem Blick und nahm dann vom untersten Regalbrett ein Glas, in dem sich irgendein Pulver befand. »Du willst etwas für die Potenz, nicht wahr? Das wollen die Chinesen immer.«