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»Deine Hände«, krächzte Khorda. »Zeig sie mir.«

Nachdem Shan sie mit den Handflächen nach oben auf den Tisch gelegt hatte, beugte Khorda sich über jede einzelne und musterte sie lange. Dann blickte er auf und sah Shan in die Augen. Gleichzeitig schob er Shans Hände zusammen und ließ eine Gebetskette hineinfallen.

Die Perlen waren eiskalt und schienen seine Hände taub werden zu lassen. Sie waren aus Elfenbein gefertigt, und jede einzelne war kunstvoll zu einem winzigen Schädel geschnitzt worden.

»Sprich mir nach«, sagte Khorda. In seiner Stimme schwang etwas Neues mit, ein durchdringender Befehlston, der Shan in sein Auge blicken ließ. »Sieh mich an, mit den Perlen in deinen Händen, und wiederhole die folgenden Worte. Om! Padme te krid kum phat!« stieß er hervor.

Shan tat, wie ihm geheißen.

Hinter ihm keuchte Yeshe auf. Die Frau gab ein Geräusch von sich, das wie das Krächzen eines Raben klang. War es Lachen? Oder ein angstvoller Aufschrei?

Sie wiederholten das seltsame Mantra mindestens zwanzigmal. Dann bemerkte Shan, daß Khorda aufgehört hatte und nur noch er selbst sprach. Er fühlte sich schwindlig, dann packte ihn ein starkes Kältegefühl, und alles schien dunkel zu werden. Die Worte kamen schneller und schneller heraus, als würde seine Stimme von jemand anderem kontrolliert. Plötzlich gab es einen hellen Blitz, der direkt in seinem Kopf aufzuzucken schien, und Khorda stieß ein lautes Brüllen aus, als habe er furchtbare Schmerzen.

Shan erzitterte heftig. Er ließ den Rosenkranz fallen und sah plötzlich wieder den Raum vor sich. Das Zittern hörte auf, doch seine Hände blieben weiterhin eiskalt.

Der Zauberer keuchte, als hätte er sich körperlich sehr angestrengt. Argwöhnisch schaute er sich im Zimmer um und achtete besonders auf die Schatten in den Ecken, als würde er damit rechnen, daß etwas von dort hervorspringen könnte. Er streckte den Arm aus und stieß mit einem knorrigen Finger Shans Brust an. »Bist du noch am Leben?« krächzte er. »Bist das immer noch du, Chinese?« Er nahm die Gebetskette und musterte abermals Shans Handflächen.

Shans Herz raste. »Wie finde ich Tamdin?« fragte er.

»Folge seinem Pfad. Er wird jetzt nicht mehr weit entfernt sein«, sagte der Zauberer mit seinem schiefen Grinsen. »Falls du mutig genug dafür bist. Tamdins Pfad ist ein Pfad der Unbarmherzigkeit. Manchmal führt nur Unbarmherzigkeit zur Wahrheit.«

»Was...« Shans Mund war staubtrocken. »Was ist, falls jemand Tamdin beleidigt hat? Was wäre in so einem Fall zu tun?«

»Einen Schutzdämon beleidigen? Dann rechne damit, nur das Nichts zu erlangen.«

»Nein. Ich meine, ein wahrhaft Gläubiger hat etwas im Namen Tamdins getan, hat vorgegeben, Tamdin zu sein. Vielleicht hat er sich sogar Tamdins Gesicht geborgt.«

»Für die Rechtschaffenen gibt es Zauber, um Vergebung zu erlangen. Bei dem Mädchen könnte es funktionieren.«

»Ein Mädchen hat Tamdin um Verzeihung ersucht?«

Khorda erwiderte nichts.

»Kann es auch bei mir funktionieren?« Falls ein Ungläubiger ein Kostüm benutzte, würde er nicht um einen solchen Zauber bitten, erkannte Shan. Aber ein Ungläubiger hätte auch nur dann Veranlassung, sich auf diese Weise zu verkleiden, wenn er den buddhistischen Mönchen schaden wollte. Und dann würde er sich keine Gedanken um Vergebung machen. Shan seufzte. Er wünschte, er könnte sich einfach damit begnügen, das Nichts zu erlangen.

Khorda nahm seinen Zaubererhut und setzte ihn auf. Wie aufs Stichwort erschien die Frau mit einem Blatt Reispapier, Tinte und einem Pinsel. Khorda nahm den Pinsel und begann, das Papier zu beschriften. Er zeichnete mehrere große Ideogramme, schloß dann das rechte Auge und hob das Blatt vor das rote Juwel auf der linken Seite seines Gesichts. Er schüttelte bekümmert den Kopf, riß das Papier in kleine Fetzen und ließ sie zu Boden fallen. »Es bleibt nicht an dir haften«, stöhnte Khorda und richtete seinen unheimlichen Blick auf Shan. »Für dich ist sehr viel mehr erforderlich.« Die Hand des Zauberers, die nach wie vor den Rosenkranz umklammert hielt, begann zu zittern.

»Was siehst du?« hörte Shan sich wie aus einiger Entfernung selbst fragen. Er massierte sich die Finger. Die Stellen, an denen sie die Schädelkette berührt hatten, fühlten sich noch immer eiskalt an.

»Ich kenne Männer wie dich. Wie ein Magnet. Nein. Anders. Wie ein Blitzableiter. Falls du nicht aufpaßt, wird deine Seele lange vor deinem Körper aufgebraucht sein.«

Khordas Hand zitterte plötzlich sehr heftig. Sie fing an, sich zu bewegen. Khorda schien dagegen anzukämpfen und zu versuchen, sie zurückzuhalten, jedoch vergebens. Sie zuckte auf Shan zu und griff in seine Tasche. Zwei knochige Finger zogen ein Stück Papier heraus. Es war Chojes Schutzzauber. Die zitternde Hand entfaltete das Blatt und ließ es dann plötzlich fallen, als hätte sie sich verbrannt.

Der alte Mann nahm die Zauberformel genau in Augenschein und nickte respektvoll. »Dieser Choje muß dich sehr lieben, Chinese, wenn er dir so etwas mitgibt«, sagte er ernst. Ein heiseres Lachen stieg aus seiner Kehle auf. »Jetzt weiß ich auch, wieso du überlebt hast«, stieß er hervor. »Aber es kann nicht ändern, was du getan hast.« Er seufzte tief, als habe eine machtvolle Umklammerung ihn freigegeben, und begann, die Schädelperlen in seiner Hand anzustarren. Eine tiefgehende Neugier zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als könne er nicht verstehen, auf welche Weise oder aus welchem Grund der Rosenkranz dorthin gelangt war.

»Was ich getan habe? Das Mantra mit den Schädeln?« fragte Shan.

Doch Khorda schien ihn nicht zu hören. Die Frau zog drängend an seinem Arm. »Die Beschwörung«, zischte sie, als sie ihn zur Tür hinausschob. »Du hast den Dämon beschworen.«

Als sie durch das Gewirr der Marktstände zurückgingen, befand sich vor ihnen ein zweirädriger Karren voller junger Ziegen, der von zwei alten Frauen gezogen wurde. Die Frauen stolperten, und der Karren stürzte um, so daß die Ladung sich direkt über Feng ergoß. Der Sergeant ging inmitten einer Schar meckernder Tiere zu Boden. Sofort brach überall um sie herum hektische Aktivität aus. Händler stießen wütende Rufe aus, um die Ziegen von ihren Waren fernzuhalten. Hirten sprangen zu Hilfe herbei und verschlimmerten das Durcheinander nur noch.

Neben Shan tauchten drei Männer auf, die wie Hirten mit Schaffellwesten und Mützen bekleidet waren. Sie stießen Yeshe und Shan in einen Durchgang, der ungefähr zwei Meter entfernt lag. Einer der Männer wandte ihnen den Rücken zu, um sie vor Fengs Blicken abzuschirmen; er begann, lautstark die Hirten anzufeuern.

»Wir wissen, daß ihr Sungpo habt«, sagte einer der Männer freiheraus. Er nahm seine Mütze ab. Ein vertrauter Haarschnitt wurde sichtbar. Mehrere lange Narben zogen sich kreuz und quer über sein Gesicht.

»Ist es nicht eine Verletzung der Klosterregeln, kein Mönchsgewand zu tragen?« fragte Shan.

Der Mann warf ihm einen mürrischen Blick zu. »Wenn man keine Lizenz hat, ist man nicht allzu wählerisch«, erwiderte er geistesabwesend. Seine Aufmerksamkeit galt Yeshe. »In welchem gompa warst du?« wollte er wissen.

Yeshe versuchte zu fliehen. Der Mann neben ihm packte ihn an der Schulter. Der Griff schien Yeshe den Atem zu rauben. Keuchend beugte er sich vor. Es handelte sich um einen traditionellen Zangengriff der asiatischen Kampfsportarten.

»Was für Mönche...«, setzte Shan an, als ihm plötzlich klar wurde, woher die Narben rührten. Sie waren eine freundliche Erinnerung an die Schlagstöcke der Öffentlichen Sicherheit und stammten von einer derart brutalen Tracht Prügel, daß lange Streifen Haut aufgeplatzt waren. Manchmal klebten die Häscher der Öffentlichen Sicherheit Sandpapier auf ihre Knüppel.

Der Begleiter des Mannes hielt Yeshe am Oberarm fest.

»Purbas!« warnte Yeshe.

»Manche behaupten, du seist einer der zung mag, die unter dem Schutz von Choje Rinpoche stehen«, sagte das Narbengesicht. Zung mag war ein tibetischer Begriff. Er bedeutete »Kriegsgefangene«. Choje hatte diese Bezeichnung noch nie benutzt. »Andere sagen, du stehst unter dem Schutz von Oberst Tan. Beides zugleich kann nicht sein. Du spielst ein gefährliches Spiel.« Schweigend nahm er Shans Arm, knöpfte die Manschette auf und schob den Ärmel hoch. Er drückte das Fleisch rund um die Tätowierung ein. Mit diesem Test erkannte man in den Gefängnissen Infiltratoren. Erst kürzlich angebrachte Tätowierungen wurden nicht bleich, weil sich darunter noch ein Bluterguß befand.