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Shan antwortete nicht. Er beugte sich vor und versuchte, die Aufschläge seiner Hose hochzukrempeln. Irgend jemand hatte eine ausgebeulte, viel zu große graue Hose und eine schäbige Soldatenjacke gebracht, die er anziehen sollte. Dann hatten sie ihn sich mitten im Büro umziehen lassen. Alle hatten in ihrer Arbeit innegehalten und ihn angestarrt.

»Ich meine, warum sonst sollte man dich bei denen einsperren?«

Shan richtete sich auf. »Ich bin nicht der einzige Chinese.«

Feng grunzte, als fände er den Gedanken amüsant. »Ja, sicher. Echte Musterbürger, jeder einzelne. Jilin hat zehn Frauen ermordet. Die Öffentliche Sicherheit hätte ihm eine Kugel in den Kopf gejagt, wäre sein Onkel nicht Parteisekretär gewesen. Der Typ aus Gruppe Sechs hat die Sicherheitsausrüstung von einer Bohrinsel gestohlen, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Es gab einen Sturm, und fünfzig Männer sind ums Leben gekommen. Für ihn wäre eine Kugel viel zu gnädig gewesen. Alles Sonderfälle, ihr aus der Heimat.«

»Jeder Gefangene ist ein Sonderfall.«

Feng grunzte erneut. »Leute wie du, Shan, werden schon aus reiner Gewohnheit eingesperrt.« Er stopfte sich zwei Scheiben Apfel in den Mund. Momo gyakpa nannte man ihn hinter seinem Rücken, Fettkloß, weil sein Bauch so rund war und er das Essen immer so gierig verschlang.

Shan wandte sich ab. Sein Blick richtete sich auf die weiten Heideflächen und Hügel, die sich wie ein wogendes Gewässer bis zum hohen, schneebedeckten Gebirge erstreckten. Bei diesem Anblick hätte man fast der Täuschung erliegen können, eine Flucht wäre tatsächlich möglich. Aber die Flucht würde immer eine Illusion bleiben, solange man keinen Ort hatte, an den man fliehen konnte.

Spatzen huschten über die Heide. Bei der 404ten gab es keine Vögel. Nicht alle Gefangenen hatten so viel Respekt vor dem Leben. Sie aßen jeden Krümel, jedes Saatkorn und beinahe jedes Insekt. Voriges Jahr war ein Kampf um ein Rebhuhn ausgebrochen, das der Wind über den Zaun getrieben hatte. Der Vogel war in letzter Sekunde entkommen und hatte zwei der Männer mit jeweils einer Handvoll Federn hinter sich gelassen. Sie hatten die Federn gegessen.

Das viergeschossige Haus, in dem die Regierung des Bezirks Lhadrung untergebracht war, hatte eine bröckelnde Fassade und dreckige Fenster, die im Wind klapperten. Feng stieß Shan die Treppe bis ins oberste Stockwerk empor, wo eine kleine grauhaarige Frau sie zu einem Warteraum brachte. Der Raum verfügte über ein einzelnes großes Fenster sowie an beiden Enden über je eine Tür. Wie ein neugieriger Vogel musterte die Frau Shan mit geneigtem Kopf und erteilte Feng eine scharfe Anweisung. Der Sergeant zuckte zusammen, nahm Shan mürrisch die Handschellen ab und zog sich dann auf den Gang zurück.

»Ein paar Minuten«, verkündete sie und nickte in Richtung der Tür am anderen Ende. »Ich könnte dir einen Tee bringen.«

Shan schaute sie verblüfft an und wußte, daß er sie eigentlich auf ihren Irrtum hinweisen sollte. Er hatte seit drei Jahren keinen echten grünen Tee mehr getrunken. Sein Mund öffnete sich, aber kein Laut drang daraus hervor. Die Frau lächelte und verschwand hinter der nahen Tür.

Plötzlich war er allein. Die unerwartete Einsamkeit überwältigte ihn. Der inhaftierte Dieb befand sich plötzlich allein in einer Schatzkammer. Denn die Einsamkeit war während der Jahre in Peking sein eigentliches Vergehen gewesen, für das ihn allerdings nie jemand angeklagt hatte. Fünfzehn Jahre Abkommandierung fern der eigenen Frau, eine eigene Wohnung im Viertel der Verheirateten, seine langen einsamen Spaziergänge durch die Parks, die Meditationszellen in seinem versteckten Tempel, sogar seine unregelmäßigen Arbeitszeiten hatten ihm zu einem Schatz an Privatsphäre verholfen, der für eine Milliarde seiner Landsleute völlig undenkbar gewesen wäre. Er hatte nie begriffen, wie süchtig er danach war, bis das Büro für Öffentliche Sicherheit ihm diesen Reichtum vor drei Jahren genommen hatte. Nicht der Verlust der Freiheit tat am meisten weh, sondern der Verlust der Privatsphäre.

Während einer tamzing-Sitzung bei der 404ten hatte er sich einst zu seiner Sucht bekannt. Sie sagten, falls er sich der sozialistischen Gemeinschaft nicht entzogen hätte, wäre rechtzeitig jemand dagewesen, um ihn aufzuhalten. Auf Freunde käme es nicht an. Ein guter Sozialist habe nur wenige Freunde, aber viele Beobachter. Nach der Sitzung war er in der Hütte geblieben und hatte eine Mahlzeit ausgelassen, nur um allein sein zu können. Direktor Zhong hatte ihn dort erwischt und in den Stall befördert, wo sie irgendeinen kleinen Knochen in seinem Fuß brachen und ihn zurück an die Arbeit zwangen, bevor die Verletzung heilen konnte.

Er schaute sich in dem Raum um. In einer der Ecken stand eine große Pflanze, die bis zur Decke reichte. Sie war abgestorben. Es gab einen kleinen Tisch mit blankpolierter Platte, auf dem ein Spitzendeckchen lag. Das Deckchen traf ihn völlig unvermutet. Er stand davor und spürte plötzlich diese Sehnsucht im Herzen. Dann riß er sich los und ging zum Fenster.

Von der obersten Etage aus hatte man einen guten Blick auf einen Großteil des nördlichen Tals, das im Osten von den Drachenklauen begrenzt wurde, den beiden riesigen symmetrischen Bergen, deren Ausläufer sich in östliche, nördliche und südliche Richtung erstreckten. Der Drache habe sich dort niedergelassen und dann in einen Schatten verwandelt, sagten die Leute. Nur seine Füße seien zu Stein geworden, um daran zu erinnern, daß er nach wie vor über das Tal wache. Was hatte einer der Männer gerufen, als die Leiche des Amerikaners gefunden wurde? Der Drache habe gegessen.

Shan ließ den Blick langsam über die Landschaft schweifen, bis er schließlich die niedrigen Dächer des wichtigsten Militärstützpunkts dieses Bezirks erkannte, des Lagers Jadefrühling. Es lag am anderen Ende einer mehrere Kilometer breiten Ebene, die aus windgepeitschtem Geröll und verkümmerter Vegetation bestand. Unmittelbar über dem Stützpunkt und unterhalb der Nordklaue erhob sich der niedrige Hügel, der Jadefrühling von dem umzäunten Lager der 404ten trennte.

Fast ohne nachzudenken, folgten Shans Augen dem Verlauf der Straßen, an denen er in den letzten drei Jahren gearbeitet hatte. In Tibet gab es zwei Arten von Straßen. Die Eisenstraßen waren immer zuerst an der Reihe. Die 404te hatte das Bett für einen breiten Makadamstreifen geschaffen, der von Lhasa hinter den westlichen Hügeln bis zum Lager Jadefrühling verlief. Mit Eisenstraßen waren nicht etwa Schienenstränge gemeint, denn die gab es in Tibet überhaupt nicht. Sie bezeichneten vielmehr die Trassen der Panzer, Lastwagen und Feldgeschütze der Volksbefreiungsarmee.

Die schmale braune Linie, die Shan von einer Kreuzung im Norden der Stadt bis zu den Klauen führen sah, war keine solche Straße. Sie war von weitaus schlechterer Qualität. Die Straße, die momentan von der 404ten gebaut wurde, war für Kolonisten gedacht, die sich in den Hochtälern hinter den Bergen ansiedeln würden. Pekings ultimative Waffe war schon immer die riesige Bevölkerung gewesen. Genau wie in der westlichen Provinz Xinjiang, in der viele Millionen Moslems aus den zentralasiatischen Kulturen lebten, machte Peking die einheimische tibetische Bevölkerung zu einer Minderheit im eigenen Land. Die Hälfte Tibets war an die chinesischen Nachbarprovinzen angegliedert worden. Die Zentren im Rest des Landes hatte man mit Immigranten überflutet. Endlose Lastwagenkolonnen hatten Lhasa in mehr als dreißig Jahren in eine Stadt der Han-Chinesen verwandelt. Die Straßen, die für diese Kolonnen gebaut wurden, hießen bei der 404ten Pfade der avichi, nach der achten Stufe der Hölle, die den Zerstörern des Buddhismus vorbehalten war.

Ein Summer ertönte. Shan drehte sich um und sah die vogelähnliche Frau mit einer Tasse Tee dastehen. Sie reichte ihm die Tasse, huschte dann durch die Tür am anderen Ende und verschwand in einem verdunkelten Zimmer.

Er stürzte die Hälfte des Tees in einem Schluck hinunter und ignorierte die Schmerzen, als er sich die Kehle verbrühte. Die Frau würde ihren Fehler bemerken und ihm die Tasse wieder wegnehmen. Er wollte sich an das Gefühl erinnern und in der Nacht auf seinem Bett noch einmal den Geschmack verspüren. Noch während er daran dachte, fühlte er sich erniedrigt und wurde wütend auf sich selbst. Das war ein verbreitetes Sträflingsspiel, vor dem Choje stets warnte: Man stahl sich kleine Stückchen der Welt, um in der Baracke darin zu schwelgen.