Juffins Verhalten verdient eine kurze Beschreibung.
Zuerst setzte er seine finsterste Miene auf, griff sich dann pathetisch an die Braue und übersteigerte die in Echo übliche Begrüßungsformel ins Exaltierte. Danach aber bekam seine Stimme eine Innigkeit, die eher für eine Dichterlesung als für ein Verhör taugte. Auch änderte er die Wortfolge seiner Sätze ins Bizarre, als wollte er in freien Rhythmen sprechen. Natürlich soll man mit Heilerinnen förmlich und aufmerksam umgehen, wie man das in meinem Herkunftsland im Gespräch mit Professoren tut. Aber für mein Empfinden übertrieb der Ehrwürdige Leiter sein Pathos ein wenig und schoss reichlich übers Ziel hinaus. Allerdings schien meine Meinung keine der anwesenden Personen zu interessieren. Also schwieg ich und senkte bescheiden die Augen. Beinahe wären sie in meine Tasse Kamra gefallen - in das Gesöff also, mit dem ich mich an diesem Abend fast vergiftet hätte. Aber auch hier gilt das Sprichwort: Umsonst schmeckt sogar Essig süß!
»Werteste Ladys, verzeihen Sie mir - einem unruhigen Geist - die Störung«, begann Juffin orgelnd. »Aber ohne Ihre klugen Worte bleibt mein Leben sinnlos. Ich habe gehört, dass ein Bewohner dieses Hauses, der seinen Funken ein für alle Mal verloren hatte, dank Ihrer wundersamen Kräfte sein Leben um einige Zeit hat verlängern können.«
»Sie meinen bestimmt Olli von den jüngeren Makluks«, meldete sich Lady Tisa verständnisvoll zu Wort.
Von den jüngeren Makluks?! Ich dachte, die alte Dame habe etwas durcheinandergebracht, aber Juffin nickte zustimmend. Gewiss hatte sie sogar noch den Urgroßvater von Sir Olli gekannt. Später erfuhr ich, dass die Frauen bei weitem älter waren, als ich es mir vorgestellt hatte. Doch nach dem Ruhestand sehnten sie sich nicht. Hier in Echo, wo ein durchschnittliches Leben dreihundert Jahre dauert, ist eine deutlich längere Existenz Ausdruck starker persönlicher Macht. Und für Heilerinnen - für sehr mächtige Frauen mithin! - sind fünfhundert Jahre kein hohes Alter.
»Olli ist sehr stark gewesen«, meldete sich Lady Mallis zu Wort. »Und wenn Sie bedenken, dass die zwölf ältesten Ladys von Echo seinen Schatten bewacht haben, könnten Sie sich darüber wundern, dass er nur noch so kurz gelebt hat, nur noch so sehr kurz. Wir hatten schon gedacht, sein Funken kehre zurück. Früher waren solche Fälle keine Seltenheit, obwohl die Jugend nicht mehr daran glaubt. Er hatte die Chance, seinen Funken zurückzuergattern!«
»Von so einem Fall habe ich noch nie gehört, Lady«, meinte Juffin sichtlich interessiert. Später gab er mir gegenüber zu, gelogen zu haben, um das Gespräch zu beleben. »Ich dachte immer, der Arme habe erstaunlich lange gelebt. Wie sich nun herausstellt, ist er viel zu früh gestorben!«
»Niemand stirbt zu früh. Jemand wie du, Ankömmling aus Kettari, sollte das wissen, denn du schaust ja manchmal in die Dunkelheit. Am Tod des jüngeren Olli tragen wir keine Schuld.«
»Das behaupte ich doch auch nicht, Lady!«
»Das machst du doch, Schlaukopf, und verkehrt ist das nicht. Aber eins sag ich dir: Wir wissen nicht, warum der jüngere Makluk-Olli gestorben ist. Obwohl wir es wissen sollten ...«
»Braba weiß es, will aber nicht darüber reden«, unterbrach Lady Tisa ihre Kollegin. »Deshalb ist sie nicht gekommen. Und sie wird auch nicht kommen. Aber das ist auch nicht notwendig. Retani hat sie einen Tag nach dem Tod des jüngeren Makluk-Olli besucht. Erzähl doch mal davon, Retani. Wir haben dich ja nie danach gefragt, weil wir eigene Probleme haben. Aber diesen Mann aus Kettari interessiert offenbar nur eins: Er will wissen, warum Braba Angst hat zu kommen. Und solange er das nicht erfährt, lässt er uns nicht in Ruhe.«
Es wurde still. Galant verbeugte sich Juffin Halli vor Lady Tisa. »Sie haben meine Gedanken gelesen, Gnädigste!«
Die alte Frau lächelte ihn kokett an und zwinkerte ihm zu. Nach dieser galanten Episode richteten sich aller Augen auf Lady Retani.
»Braba weiß es zwar nicht, doch sie fürchtet sich sehr«, begann sie. »Seit dem Tod von Sir Olli kann sie nicht mehr arbeiten und ist ängstlich wie ein kleines Mädchen. Sie sagt immer wieder, jemand habe den Schatten des jüngeren Makluk-Olli und fast auch ihren eigenen Schatten entführt. Wir alle sind überzeugt, dass Ollis Schatten von allein gegangen ist. Keine Ahnung, warum. Er ist so rasch verschwunden wie eine Frau, die nicht mehr liebt. Aber Braba beharrt darauf, sein Schatten sei entführt worden. Von jemandem, den sie nicht habe erkennen können. Sie war so verängstigt, dass wir beschlossen haben, sie nicht mehr danach zu fragen. Warum auch? Den Schatten kann man ohnehin nicht zurückholen. Warum sollen wir uns obendrein vor fremder Angst ängstigen?« Plötzlich schwieg Lady Retani, und wie es aussah, würde sich daran bis zum nächsten Jahr nichts ändern.
Die Heilerinnen tranken in aller Stille Kamra und knabberten leise an ihrem Gebäck. Sir Juffin versank in Gedanken. Der Diener Gowins schwieg bedeutsam. Ich genoss den Anblick der Gruppe. Plötzlich wurde die Luft im Zimmer so dick, dass ich kaum mehr atmen konnte. Etwas Widerliches war unversehens hereingekommen, hatte aber nur mich gestreift. Ein kleines Klümpchen Angst war mir beim Einatmen in die Lunge geraten, rückte mir mit dem Schatten einer Vermutung zu Leibe und verschwand gleich wieder, wie ich erleichtert bemerkte. Bestimmt war das die fremde Angst gewesen, von der die alte Lady gesprochen hatte. Dieses merkwürdige Ereignis wirkte auf mich - wie so oft - als ungreifbarer Stimmungsdämpfer. Und ich kam nicht auf die Idee, Sir Juffin davon zu erzählen.
Später begriff ich, dass man solche Ereignisse nicht verheimlichen sollte. Seltsame seelische Erlebnisse machten einen wichtigen Teil meines künftigen Berufs aus. Die Mitarbeiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps sind verpflichtet, ihrem Chef jede beunruhigende Vorahnung, jeden nächtlichen Alptraum, jedes überraschende Herzklopfen und jede andere ungewöhnliche seelische Schwäche ausführlich zu berichten. Seine Situation analysiert und deutet dann jeder Mitarbeiter für sich. Ich hingegen versuchte, das Klümpchen fremder Angst zu vergessen. Und meine Bemühungen waren schnell erfolgreich.
»Ich weiß, wie die Schatten Weggehen«, meldete sich Sir Juffin endlich zu Wort. »Kluge Ladys, erklären Sie mir bitte, warum nur Braba gespürt hat, dass etwas nicht in Ordnung war.«
»Gespürt haben wir es alle«, lächelte Lady Mallis. »Aber mehr auch nicht. Keine von uns wusste, worum es sich handelte. Das war für uns zu schwierig. Für dich ja auch, obwohl du öfter als wir in die Finsternis schaust. Und dein Laufjunge kann dir auch nicht helfen!« Ich merkte entsetzt, dass mich alle Frauen aufmerksam ansahen.
»Dieses Geheimnis, Sir, sollte man auf sich beruhen lassen«, sagte Lady Tisa. »Es ist sinnlos, über etwas zu sprechen, das man nicht kennt. Nur weil wir in Gesellschaft zweier Gentlemen sind, die oft in die Finsternis schauen, haben wir uns entschieden, alles zu sagen, obwohl das nichts bringt. Und jetzt gehen wir.«
Graziös wie junge Kätzchen verschwanden die drei alten Damen durch die Tür.
»Juffin?«, fragte ich beunruhigt, bediente mich dabei aber Stummer Rede. »Wen meinen die drei mit den Gentlemen, die in die Finsternis schauen? Worum geht es da?«
»Lass diesen Unsinn auf sich beruhen. So denken die Ladys nun mal über uns. Von Unsichtbarer Magie wissen sie nur wenig. Darum bezeichnen sie alles als Finsternis. Das ist einfacher für sie. Was sie gesagt haben, hat kaum Bedeutung. Diese Damen sind gut in der Praxis und schlecht in der Theorie.«
Sir Juffin stand auf. »Gowins, wir gehen, denn wir müssen uns einiges durch den Kopf gehen lassen. Sag deinem Herrn, er braucht niemanden zum Haus an der Brücke zu schicken. Ich kümmere mich um alles. Morgen sende ich dir die Erlaubnis, deinen Herrn zu beschützen. Aber ich kann nicht versprechen, dass ich die Ordnung rasch wiederherstellen kann. Schließlich handelt es sich nicht um ein einfaches bürokratisches Problem. Hier braucht man Geduld. Außerdem habe ich in den nächsten Tagen viel zu tun. Achte darauf, dass niemand das verdammte Schlafzimmer betritt. Niemand! Wenn ich längere Zeit nicht vorbeisehe, soll Sir Makluk sich nicht aufregen. Ich vergesse den Fall schon nicht, auch wenn ich es liebend gern täte. Aber falls...