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»Schau mich nicht so an, Junge! Ich bin nur ein wenig neidisch. Gib mir auch ein Schlückchen.«

Als ich die Vision wieder vor Augen hatte, hatte Nattis schon mit dem Rasieren begonnen, fuhr sich mit dem Messer über die Wangen und lächelte sanft in sich hinein. Das Messer kam einer pulsierenden Ader seines knabenhaften Halses immer näher. Bis dahin war alles völlig normal gelaufen. Eine ganz gewöhnliche Rasur.

Aber der Spiegel schlief nicht. Ein paar Pünktchen auf seiner Oberfläche zitterten im richtigen Moment, und die eisige Angst tastete wieder nach meinem Herzen, dem all das gefiel, wie einem alten Schürzenjäger ein appetitliches Mädchen gefällt.

Sir Juffin nahm mich beim Kinn. »Schau bitte weg. Das ist schon wieder ein abstoßendes Bild. Ich jedenfalls will mir diesen Mist nicht ansehen. Weißt du, man hat mir bereits von solchen Sachen erzählt und mir am Ende immer zu verstehen gegeben, es sei besser, sich mit diesen Wesen zu versöhnen, statt gegen sie anzukämpfen. Mein Nachbar hat übrigens hübsche Möbel - das muss ich ihm lassen!

Er ist anscheinend ein wirklich anständiger Mensch. Nattis allerdings hat sich vom Flüstern des Spiegelwesens beeinflussen lassen. Ach, Max, schau dir seine Augen an! So was hab ich noch nie gesehen! Werde nur nicht übermütig!«

Das Erste, was ich sah, war das hilflose Lächeln des Jungen, das dem absurden Lächeln unseres glücklichen Melifaro sehr ähnlich war. Rührende Grübchen zierten die schon glatte rechte und die noch unrasierte linke Wange. Und Blut, viel Blut. Es überflutete den Spiegel und ließ das darin wohnende Wesen vor Begeisterung zittern und so gierig atmen wie einen unerfahrenen Taucher, der mit knapper Not die Wasseroberfläche erreicht hat. Zweifellos hauchte das Blut dem Spiegel wieder Leben ein - nein, nicht dem Spiegel, sondern einem Gegenstand, der nur wie ein Spiegel aussah, tatsächlich aber ein lange unbenutzter Zugang zu einem widerlichen Ort war. Mir stockte der Atem. Nattis lag schon am Boden. Wie verzaubert starrte Gowins ihn an. So entging ihm, dass der blutverschmierte Spiegel vor Zufriedenheit bebte, sich dann ein wenig verdunkelte und schließlich reglos wurde. Natürlich nur für kurze Zeit. Leute kamen ins Zimmer, und das Bild taute auf.

»Juffin«, sagte ich leise. »Sie wissen also, was das ist?«

»Wissen tue ich es schon, wenn man das so sagen kann. Weißt du, Max, das ist eine Legende, und ich muss gestehen, dass ich bisher nicht daran geglaubt habe. Doch es spielt keine Rolle, ob ich daran glaube oder nicht. Wir schaffen das schon. Egal was passiert. Schau! Jetzt kommt das Interessanteste!«

»Das alles ist mir zu langweilig, Juffin. Und widerlich ist es auch.«

»Natürlich ist es widerlich. Was hast du denn gedacht? Macht nichts - nach einem solchen Anfang wird die Arbeit für dich das reinste Vergnügen sein. So etwas geschieht nicht jeden Tag. Eigentlich passiert es nie.«

»Das will ich hoffen. Offen gesagt ziehe ich das Vergnügen der Arbeit vor - so einer Arbeit jedenfalls.«

Schon zeigte uns die kleine Cremedose das nächste Ereignis. Wir sahen Krops Kulli, einen weiteren netten Jungen, ins Schlafzimmer kommen. Er war rot wie ein Apfel, was in Echo als Zeichen männlicher Kraft und Schönheit gilt. In seinem Fall war das wirklich so. Hier gibt es viele hübsche Menschen, kam mir plötzlich in den Sinn. Mehr als dort, wo ich herkomme. Die Leute hier sehen das anders, weil sie andere ästhetische Maßstäbe haben. Ob ich nach hiesiger Betrachtung wohl eher ein Schönling oder eine Vogelscheuche bin?

Ich zuckte die Achseln. Was für eine brennende Frage!

Der Rötling tat eifrig, als würde er aufräumen. Was kann man in einem seit langem leeren Zimmer, das ohnehin jeden Tag sauber gemacht wird, noch putzen und ordnen? Diszipliniert besuchte er alle Ecken und wedelte mit seinem Utensil, einem kleinen Besen. Nach ein paar Minuten gab es endgültig keine Hausarbeit mehr zu simulieren - das Zimmer befand sich im Idealzustand. Also beschloss der junge Krops, er habe eine Pause verdient. Er stand vor dem Spiegel und untersuchte aufmerksam sein Gesicht. Mit zwei Fingern zog er die Augenwinkel hoch. Dann ließ er sie los und seufzte bedauernd. Wahrscheinlich probierte er diese Miene nicht zum ersten Mal aus und fand immer größeren Gefallen daran. Dann erforschte er missmutig seine Nase. Man zeige mir einen jungen Menschen, der mit seiner Nase zufrieden ist!

Ich fürchte, diese kleinliche Unzufriedenheit war seine letzte Empfindung. Das funkelnde Spinnennetz erschien auf seinem Ärmel, und Sekunden darauf befand sich der arme Junge im Zentrum des beinahe unsichtbaren Kokons. Ich spürte die Erleichterung, die ihn erfüllte. Plötzlich wurde ihm alles klar: DU MUSST DORTHIN GEHEN! Und schon machte der rothaarige Krops ein paar Schritte auf den Spiegel zu. Sein hilfloses Lächeln ähnelte der Miene des erstarrten Sir Melifaro.

Als ich - wie Krops und wohl auch seine unglücklichen Vorgänger - den Befehl DU MUSST DORTHIN GEHEN! auf mich wirken spürte, wandte ich mich ab. Mir war klar: All das könnte sich bei mir wiederholen. Und das Ekelhafteste daran war, dass es mir sogar gefallen würde! Vor meinen Augen flackerte ein kleines, widerliches Affengesicht. Und der Abgrund seines Mauls - umrahmt von quicklebendigen Spinnenbeinen - erschien mir als ersehnter Ruheplatz.

Ich nahm einen guten Schluck Kachar-Balsam. Ja, Magie achten Grades hat schon was! Dieses Getränk schmeckt teuflisch gut, und alle Versuchungen sind wie weggeblasen. Von Kindheit an hatte man mir eingeredet: Nur was bitter schmeckt, kann helfen. Das war gelogen, wie mir jetzt klar wurde. Gute Nachricht!

Ich vergewisserte mich, dass der Spiegel keinen Einfluss mehr auf mich ausübte, und wandte mich wieder den Erinnerungen der Dose zu, die erneut ein leeres, aufgeräumtes und hübsches Schlafzimmer zeigte.

»Siehst du das, Max?«, fragte Juffin und stieß seinen Ellbogen in meine leidgeprüfte Seite. »Siehst du's?«

»Was?«

»Na, nichts! Bisher hatten wir stets abrupte Szenenwechsel. Jetzt versteh ich endlich, warum mein Zeiger immer zwischen Zwei und Drei gesprungen ist!«

Plötzlich kam mir ein Gedanke. Anscheinend wollte ein lustiges Abenteuer des Grafen Dracula meinen ärmlichen IQ ein wenig beleben.

»Wenn das Spiegelmonster gegessen hat, schläft es, oder? Und weil der Spiegel und sein Bewohner schlafen, produzieren sie keine magische Aktivität, stimmt's?«

»Stimmt. Das Monster hat uns überlistet. Die Pfeife hat meinen Verdacht auf den Spiegel fallen lassen, obwohl nicht er es ist, der Magie ausübt, sondern sein Bewohner. Üblicherweise bleibt die Magie dort, wo sie deponiert wird. Aber dieses Monster lebt. Und ein lebendiges Wesen kann von Zeit zu Zeit in die Traumwelt fliehen. Wenn ein Magier schläft, schweigen alle Zeiger ... natürlich in dieser Welt. Bestimmt toben sie sich dann in anderen Welten aus - falls es dort Zeiger gibt, und daran habe ich große Zweifel. So sieht die Sache aus. Und jetzt zurück ins Wohnzimmer, Max.«

»Sie kennen mich doch - dazu bin ich immer bereit.«

Sir Juffin stand auf, knackte mit den Gelenken und streckte sich lässig. Vorsichtig nahm ich die Cremedose vom Fußboden und schob sie in die Tasche. Noch nie hatte ich einen Talisman gehabt. Jetzt aber besaß ich einen, und das war gut so.

In diesem Augenblick erlosch die Kerze. Unwillkürlich beugte ich mich zu Boden, um den Stummel aufzuheben, fand ihn aber nicht. Nirgendwo! Ich wunderte mich nicht mehr darüber, sondern registrierte es bloß.

Wir kehrten ins Wohnzimmer zurück. Der Morgen graute. »Na, das hat gedauert«, bemerkte ich ungerührt. Der Bote von Sir Makluk war vor ungefähr zwölf Stunden gekommen.

Die Kamra schmeckte fantastisch. Als zweiten Gang brachte uns der unerschütterliche Kimpa winzige Kekse, die uns im Munde zergingen. Der verschlafene Hund Chuf kam zu uns und wedelte mitfühlend mit dem Schwänzchen. Schweigend wetteiferte ich mit Sir Juffin, wer mehr Kekse an das Tier verfütterte. Chuf wollte uns beide zufriedenstellen und tollte wie ein kleiner flauschiger Torpedo durchs Zimmer. Als er satt war, legte er sich unterm Tisch zwischen uns, damit keiner beleidigt war.