»Max«, begann Juffin betrübt. »Ich glaube inzwischen, dass Melifaro eine kleine Chance hat. Es reicht nicht, ihn bloß aus dem Zimmer zu tragen und wieder zu Bewusstsein zu bringen. Er gehört schon zum Spiegel, und diese Verbindung darf nicht unterbrochen werden, solange sein Leben angehalten ist. Wenn das Spiegelmonster erwacht, nimmt es seine Kost von überall, notfalls aus der anderen Welt. Natürlich kann man das Geschöpf vernichten. Schürf Lonely-Lokley beispielsweise kann das. Aber ich glaube, niemand ist imstande, das Ungeheuer so schnell zu töten, dass Melifaro am Leben bleibt. Sollen wir also alles lassen, wie es ist? Aber es kann doch nicht immer so bleiben! Ich muss das Rätsel des Spiegels und seines hungrigen Bewohners lösen! Doch das geht nicht, solange wir das Monster in Ruhe lassen. Damit ich die Bestie vernichten kann, muss ich sie wecken. Dann aber verspeist sie zuletzt noch Sir Melifaro, und zu diesem Opfer bin ich nicht bereit - das versteht sich wohl von selbst. Daran will ich nicht einmal denken. Ein Teufelskreis, Max, ein echter Teufelskreis!«
Zerstreut nahm ich noch einen Keks. Ich hätte nie gedacht, dass Sir Juffin - ein Mensch immerhin, der mich ganz nebenbei von einer Welt in die andere versetzt hatte - so müde und verloren sein konnte. Ich begriff, dass selbst seine Macht Grenzen hatte, und fühlte mich plötzlich einsam und unwohl. In der leblosen Stille des Wohnzimmers klang mein Keksknabbern ausgesprochen laut. Der Teufelskreis ... der Spiegel... der Teufelskreis ... Mir stockte der Atem. Konnte es wirklich so einfach sein? Warum war Sir Juffin nicht auf diese Lösung gekommen?
»Juffin«, rief ich heiser, räusperte mich und begann erneut. »Es klingt vielleicht dumm, aber Sie haben doch von einem Teufelskreis gesprochen. Wenn man dem Spiegel nun einen zweiten gegenüberstellt, ist das doch auch ein Teufelskreis! Und wenn die Bestie ihr eigenes Bild sieht - könnte es dann nicht sein, dass sie eine Vorliebe für sich selbst entdeckt?« Nach diesen Worten nahm ich meinen Mut zusammen und sah Sir Juffin in die Augen. Er schaute mich mit offenem Mund an.
»Sündige Magister! Begreifst du eigentlich, was du da gesagt hast, Junge? Wozu hab ich dich überhaupt am Hals? Weißt du, was für ein Wesen das ist? Sag mal ehrlich!«
Diese Reaktion hatte ich - offen gesagt - nicht erwartet. Zuerst genoss ich die Wirkung meiner Worte, dann aber war sie mir peinlich. Ich hatte anscheinend nichts Besonderes vorgeschlagen. Es war nicht einmal klar, ob es funktionieren würde. Immerhin allerdings flüsterte mir etwas zu, es würde klappen. Auch in Juffin schien die gleiche Ahnung zu jubeln. »Das wird funktionieren«, rief er. »Und ob!«
Ich stand vom Tisch auf, streckte mich und ging zum Fenster. Die herrliche Morgendämmerung hätte für jede schlaflose Nacht entschädigen können. Wer sich an die Gegenwart hält und nicht in der Vergangenheit stochert, den begeistert das Morgenrot. »Geh endlich schlafen, Max«, riet mir Juffin. »Ich habe Lonely-Lokley gerufen. In vier Stunden ist er da. Sir Schürf und seine Zauberhände. Das wird dir gefallen. Bis dahin kannst du dich erholen. Ich rate dir, diese Gelegenheit nicht zu versäumen.«
»Was für Zauberhände?«
»Das wirst du schon sehen, Max. Sir Lonely-Lokley ist unser ganzer Stolz. Achte nur darauf, die Bestandteile seines Namens nicht durcheinanderzubringen. Da ist er nämlich sehr empfindlich - und nicht nur, was das anlangt. Ich kann gar nicht beschreiben, was für ein Vergnügen dich erwartet. Und jetzt ab in die Heia.«
Mir war nicht nach Widerspruch. Stattdessen ging ich ins Schlafzimmer, legte mich ins weiche Bett, kuschelte mich in meine flauschige Decke und konnte mein Glück kaum fassen: endlich Ruhe! Ich war unbeschreiblich müde, doch etwas störte mein Behagen. Mühsam hob ich den Kopf und musste die Lider beinahe mit den Fingern auseinanderziehen. Kein Wunder, dass ich nicht hatte einschlafen können: Auf dem Kissen lagen meine Hausschuhe, die ein kleiner Fetischist namens Chuf dort deponiert hatte. Leise Pfotengeräusche zeigten mir, dass der Urheber der Unordnung wie gerufen kam. Ich stellte meine Schuhe an ihren Platz. Chuf entschied, auf dem Kissen sei jetzt Raum genug für zwei, und ich hatte keine Einwände.
»Weckst du mich, wenn Lonely-Lokley mit seinen berühmten Händen kommt?“, fragte ich und drehte mich von seiner viel zu feuchten Schnauze weg. Chuf schnaufte friedlich. »Max schläft, morgen Gäste ... ich muss ihn auf wecken ...«, hörte ich den klugen Hund noch räsonnieren. Dann schlief ich ein.
Seltsamerweise war ich eine Stunde früher wach als nötig. Ich fühlte mich ausgezeichnet. Das war sicher die beruhigende Wirkung des Kachar-Balsams. Ein großartiges Mittel!
Chuf lag nicht mehr neben mir. Bestimmt stromerte er durchs Foyer, um die Ankunft von Sir Lonely-Lokley nicht zu verpassen und meinen Auftrag zu erfüllen. Ich wälzte mich noch zehn Minuten im Bett herum, streckte mich und gähnte ausgiebig - tat also all das, was nur den vollauf befriedigt, der sowieso gut geschlafen hat. Dann stand ich auf, wusch mich mit Behagen und wollte mich rasieren. Ach, rasieren - die tägliche Qual des Mannes! Nur Männer mit Bart sind glücklich und frei! Übrigens weckte der Spiegel im Bad bei mir keine unangenehmen Erinnerungen. Nicht dass ich plötzlich ein dickes Fell bekommen hätte. Ich wusste bloß, dass es sich hier um einen ganz normalen Spiegel handelte. Überhaupt erfuhr ich seit meiner kurzzeitigen Metamorphose in einen Vampir allmählich mehr über die Dinge um mich herum - sie musste also ein wichtiges Ereignis in meinem Leben gewesen sein. Damit könnte ich Mädchen imponieren. Falls es hier Mädchen gab, hing mein Erfolg aber nicht unbedingt von solchen Geschichten ab.
Ich ging ins Wohnzimmer. Ehrfürchtig materialisierte sich Kimpa mit einem Tablett am Tisch. Dann erschien Chuf und war fest überzeugt, ihm stünde mehr als die Hälfte des Frühstücks zu. Ich nahm ihn in den Arm, setzte ihn mir auf den Schoß, trank die erste Tasse Kamra, blätterte die Zeitung vom Vortag durch und zog noch aus meinem irdischen Vorrat stammende Zigaretten aus der Tasche. Ich hatte Probleme, am hiesigen Tabak Gefallen zu finden, dessen Geschmack mein Leben verpestete. Was das angeht, bin ich sehr konservativ. Es fällt mir leichter, den Wohnort, die Beschäftigung und selbst die Wirklichkeitswahrnehmung zu wechseln, als mich an eine neue Sorte Tabak zu gewöhnen.
»Gut, dass du kein Vampir geblieben bist«, begrüßte Juffin mich. »Ich wüsste sonst nicht, wie ich dich füttern sollte. Müsste ich Kimpa morgens sagen: -Mein Guter, bringen Sie mir bitte Kamra und belegtes Brot, Sir Max aber einen Krug Blut?« Müsste ich die Nachbarn umbringen und alle dienstlichen Möglichkeiten nutzen, die Spuren der Tat zu beseitigen? Aber Spaß beiseite. Einen vernünftigen Jungen wie dich sollte man nicht wegen jeder Kleinigkeit verspotten. Das ist übrigens ein Lob, wie du vielleicht bemerkt hast.«
»Sie streuen nur Salz in meine Wunde«, lächelte ich und musterte meine am Vortag verletzte Hand, die ich zwischendurch ganz vergessen hatte. Zu meiner Überraschung war sie wieder völlig in Ordnung. Nur eine dünne Narbe, die man eher für die Lebenslinie hätte halten können, war zurückgeblieben, als wäre die Verletzung schon Jahre her.
Juffin bemerkte mein Staunen.
»Das ist nur Schwarze Magie zweiten Grades - in Form einer guten Creme. Kimpa hat dich gestern behandelt, als du noch überlegt hast, ob es sich lohnt, wieder zu Bewusstsein zu kommen. Was wundert dich denn so?«
»Alles.«
»Das ist dein gutes Recht. Ah, nun sind wir alle beisammen!«
Sir Schürf Lonely-Lokley, dessen Abwesenheit die Kollegen mehrmals bedauert hatten, wurde seiner sprichwörtlichen Frohnatur gerecht, indem er mich grundlos durchschüttelte. Ausgerechnet mich! Den Bewohnern von Echo waren die Doppelgängerqualitäten von Lonely-Lokley nicht bekannt, weil die Rolling Stones in dieser Welt noch nicht gastiert hatten. Nur ich konnte die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen Sir Schürf und dem Glückspilz Charlie Watts bewundern.
Diese Ähnlichkeit erstreckte sich auch auf die versteinerte Miene, die enorme Körpergröße und die überraschende Magerkeit. Andererseits war die Gestalt in einen hellen Lochimantel gehüllt, trug einen schneeweißen, bläulich schimmernden Turban und hatte obendrein riesige Handschuhe aus grobem Leder an, auf denen Buchstaben des Runenalphabets prangten ... Mein Kulturschock dürfte also nur zu verständlich sein!