Die Begrüßung des neuen Kollegen verlief indessen ohne Überraschungen. Wir beendeten die Formalitäten rasch und setzten uns zu Tisch. Lonely-Lokley nippte feierlich an seiner Kamra. Ich erwartete noch immer, er werde Trommelstöckchen aus der Brusttasche ziehen, und saß wie auf Kohlen da.
»Ich habe viel von Ihnen gehört, Sir Max!«, wandte sich mein neuer Kollege höflich an mich. »In der Freizeit blättere ich häufig in Büchern. Darum wundert mich Ihre Ernennung nicht. Viele bekannte Forscher weisen auf beachtliche Traditionen hin, die bei den Bewohnern der Leeren Länder die Entwicklung magischer Praktiken begünstigt haben, Praktiken, die wir übernommen haben. Selbst Sir Manga Melifaro erwähnt im dritten Band seiner Enzyklopädie der Welt Ihre Landsleute.«
»Melifaro?«, staunte ich. »Wollen Sie damit sagen, dass dieser Bursche nicht nur das Tagesantlitz des Ehrwürdigen Leiters ist, sondern obendrein die Enzyklopädie der Welt geschrieben hat? Das hätte ich nicht gedacht.«
»Wenn Sie meinen Arbeitskollegen im Sinn haben, kann ich mich Ihnen nur anschließen. Sir Melifaro ist kaum zu systematischer wissenschaftlicher Arbeit geeignet«, nickte Lonely-Lokley.
»Manga Melifaro, der Verfasser der Enzyklopädie der Welt, die ich immer wieder für meine Bibliothek zu kaufen vergesse, ist der Vater des armen Tropfs, der am Spiegel hängt«, erklärte Juffin. »Wenn dieses Abenteuer glücklich überstanden ist, werde ich Sir Melifaro verdonnern, uns beiden eine komplette Ausgabe der Werke seines Vaters zu schenken. Der Arme wird sich bestimmt darüber freuen, weil sein ganzes Haus von Vaters Geschreibsel überquillt. Man kann sich bei ihm kaum noch bewegen.«
Sir Lonely-Lokley wartete geduldig, bis wir fertig waren, und fuhr dann fort: »Sie sind mir ins Wort gefallen, mein Herr. Ich wollte noch sagen, dass Sir Manga Melifaro im dritten Band seines Werks schreibt: >An den Grenzen der Leeren Länder wohnen die unterschiedlichsten Leute, die mitunter über erstaunliche Fähigkeiten verfügen - nicht nur wilde Barbaren, wie bisher angenommen.« Darum freue ich mich sehr, Sie kennenzulernen, Sir Max.«
Im Namen aller Bewohner der Grenzgebiete sprach ich dem Großherzigen Meister, den man auch Schnitter des Lebensfadens nennt, meine Dankbarkeit aus.
»Also, Leute, gehen wir!«, rief Juffin schließlich und stand auf. »Übrigens, Sir Schürf - wir brauchen noch einen Spiegel. Der größte hängt im Flur. Den hab ich auf dem Flohmarkt gekauft, zu Beginn der Epoche des Gesetzbuchs. Damals gab es hier noch keine Antiquitätenläden, obwohl die Nachfrage nach Luxuswaren gerade angezogen hatte. Nicht die günstigste Zeit für Neuanschaffungen also. Ich fürchte, das war der teuerste Spiegel des Linken Flussufers - runde fünf Kronen hat er mich gekostet. Was man nicht alles opfern muss!«
Wir gingen in den Flur. Der Spiegel war wirklich riesig und zweifellos seine fünf Kronen wert - auch wenn ich mich damals in den ökonomischen Verhältnissen von Echo noch nicht so gut auskannte.
Wie sollen wir das bloß schaffen?, dachte ich erschrocken. Aber zu dritt geht es vielleicht.
Juffin regelte das anders. »Schürf, nimm ihn! Wir gehen!«
Ich hatte mir schon gedacht, dass der stets so förmliche Sir Schürf über legendäre Körperkräfte verfügte.
Darum war er für die ganze Sache ja auch so wertvoll. Aber er trug den schweren Spiegel gar nicht, sondern fuhr mit behandschuhter Pranke lässig von oben nach unten übers Glas ... und ließ ihn dabei in der Hand verschwinden. Mir klappte die Kinnlade runter.
»Juffin, können Sie mir das auch beibringen?«
Meine Selbstbeherrschung reichte gerade noch dazu, nicht zu schreien, sondern Stumme Rede zu benutzen. Vielleicht konnte hier ja jeder so etwas problemlos schaffen?
»Na klar«, antwortete Juffin ungerührt. »Oder Sir Schürf übernimmt das. Erinnere uns daran, wenn wir mehr Zeit haben.«
Das Haus von Sir Makluk ähnelte einer verwahrlosten Gruft. Sir Lonely-Lokley, der stets nach Vorschrift vorging, öffnete die Tür und betrat als Erster das Schlafzimmer. Wir folgten ihm. Seit unserem letzten Besuch hatte sich nichts geändert.
Als ich den armen, reglosen Melifaro sah, verließ mich der Mut. Wie hatte ich glauben können, es ließe sich noch was machen? Und wenn unser Rettungsversuch scheiterte? Was waren wir dann? Mörder? Oder nur ganz normale Dummköpfe? Gute Frage! Ein praktisches und zugleich moralisches Problem, über das ich mir vermutlich demnächst den Kopf würde zerbrechen können.
Sir Lonely-Lokley sah die Lage pragmatischer. »Gut, dass er schweigt«, sagte der freundliche Mann und wies mit dem Kopf auf Melifaro. »Das sollte immer so bleiben!«
In seiner Stimme lag keine Schadenfreude. Der stille Melifaro gefiel ihm einfach besser als der gesprächige. Ein überaus geschmackssicheres Urteil.
Kaum hatte er es ausgesprochen, schüttelte Lonely- Lokley die Faust und öffnete sie. Juffins Riesenspiegel landete zwischen dem denkmalgleich erstarrten Melifaro und dem geheimen Spiegeleingang in eine andere, feindselige Dimension.
»Er steht etwas schief«, kommentierte Juffin. »Wir müssen ihn ein wenig nach rechts verschieben.«
»Wir, Sir?«, meinte der herrliche Lonely-Lokley kühl. »Das schaffe ich auch allein.« Bewundernswert lässig hob er den Glaskoloss mit der linken Hand. Seine legendären Körperkräfte hatten ihn also auch hier nicht verlassen. Als ich das sah, stockte mir der Atem wie einem jungen Kraftsportler, dem Arnold Schwarzenegger leibhaftig begegnet!
Juffin schaute sich das Ganze missmutig an. Alles war bestens: Der hiesige und der mitgebrachte Spiegel reflektierten einander nach Kräften. Und wichtiger noch: Sir Juffins Spiegel schirmte Melifaro von dem blutrünstigen Monster ab.
Der Leiter des Geheimen Suchtrupps warf einen Abschiedsblick auf sein kostbares Stück und befahclass="underline" »Sir Schürf, bereiten Sie sich vor! Max, hinter meinen Rücken! Oder besser: auf die Türschwelle! Du hast getan, was du konntest. Jetzt hast du nur noch eine Aufgabe: am Leben zu bleiben. Das ist mein Ernst!«
Ich gehorchte und bezog an der Tür Posten. An Juffins Befehl gab es - das muss ich gestehen - nicht viel zu meckern.
Sir Lonely-Lokley zog die Handschuhe aus. Jetzt verstand ich das Gerede über seine außerordentlich geschickten Hände. Seine Gelenke waren halb durchsichtig und funkelten in der Nachmittagssonne. Er ließ die langen Krallen durch die Luft fahren und schob sie dann unter seinen weißen Mantel. Ich verdrehte wie verrückt die Augen, da ich meine Begeisterung nicht anders äußern konnte. Plötzlich wusste ich, dass ich vor kurzem etwas Ähnliches gesehen hatte. Aber wo? In einem Alptraum vielleicht? Sir Juffin erbarmte sich meines armen Kopfs und erklärte mir flüsternd: »Erinnerst du dich daran, wie wir das Gedächtnis der Stecknadel untersucht haben? Der Orden der Eisenhand! Weißt du, wovon ich rede?«
Ich begriff und wollte fragen, ob die abgehackten Hände zu Gliedern unseres erstaunlichen Freunds geworden seien, doch Juffin kam mir zuvor: »Das sind Handschuhe. Später erkläre ich dir das. Jetzt müssen wir uns mit dieser Sache beschäftigen!«
Damit ging er zum reglosen Melifaro hinüber und stellte sich auf Zehenspitzen, um zu sehen, was in den Spiegeln passierte. Ich wartete atemlos.
Diesmal gab es keinen Tanz. Nur Juffins Körpersprache und Miene drückten eine ungeheure Anspannung aus. Dann entkrampfte er sich plötzlich und machte eine sanfte Bewegung, als zöge er ein Tuch von einer teuren Vase. Fast im gleichen Moment stieß er Melifaro mit ganzer Kraft. Der eben noch Erstarrte krümmte sich zusammen, flog in die gegenüberliegende Zimmerecke und stürzte zu Boden. Sir Lonely-Lokley, der die linke Hand noch immer unterm Mantel versteckt hielt, sprang zu ihm und wühlte mit der Rechten durch seine Kleider. Ich verstand sofort, warum: Lonely-Lokley zerstörte die dünnen, schillernden Fäden, die das Opfer umgaben. Das war eine schier unlösbare Aufgabe. Genauso gut hätte er versuchen können, einen Dorfköter von Flöhen zu befreien. Sir Juffin hielt sich abseits und ließ die Spiegel nicht aus dem Blick.