Zu Beginn der Epoche des Gesetzbuchs mussten die besiegten Ordensmitglieder das Vereinigte Königreich verlassen. Man kann vermuten, dass selbst die mächtigsten Magier außerhalb der Grenzen von Echo einen Großteil ihrer Kraft verlieren und das berüchtigte Weitende nicht heraufbeschwören können. Ab und an schauen einige dieser Magier in Echo vorbei, und dann wird es bei uns lustig.
Die Nutzungssperre der Weißen Magie betrifft den Orden des Siebenzackigen Blattes nicht, denn seine Mitglieder verfügen über Wissen, das es ihnen erlaubt, die Auswirkungen ihrer Experimente auf ein Minimum zu reduzieren. Ökologisch saubere Magie - so etwas in der Richtung.
Außerdem gibt es zahlreiche verdiente, verehrte und gefährliche Magier, die unangefochten in Echo leben und gewisse Privilegien besitzen. Sie haben es rechtzeitig geschafft, sich mit den künftigen Siegern zu arrangieren, oder sich dem Krieg einfach entzogen. Sie alle sind bewundernswerte und schillernde Persönlichkeiten, und ich bin der so festen wie naiven Überzeugung, dass auf ihrer charmanten Klugheit das Wohlergehen der Hauptstadt des Königreichs ruht.
Meiner Ansicht nach stehen ausreichend viele Grade von Alltagsmagie zur Verfügung, so dass man sich nicht langweilen kann. Wer die Epoche der Orden noch erlebt hat, ist allerdings womöglich anderer Meinung.
Und noch etwas. Neben der Alltagsmagie gibt es die Unsichtbare oder Reine Magie. Man hat mir mal erklärt, sie könne nicht nur die Welt zerstören, sondern bilde zugleich ein unerlässliches Element ihres Daseins. Da ich diese Theorie nicht widerlegen kann, glaube ich einfach daran.
Nur wenige kennen und beherrschen die Reine Magie, und ich möchte darauf hinweisen, dass die Gabe, sich mit ihr zu beschäftigen, vom Geburtsort unabhängig ist. Dafür bin ich selbst ein erstaunlicher Beweis. Sir Juffin Halli - mein bester Freund, Vorgesetzter und Lehrer - behauptet, die Reine Magie komme in allen Welten vor: eine ziemlich gute Nachricht.
Ihr Max Frei
Debüt in Echo
Man weiß nie, wohin es einen verschlägt. Was das angeht, bin ich Spezialist. Die ersten neunundzwanzig Jahre meines Lebens war ich ein klassischer Versager. Der Mensch hat die Neigung, die verschiedensten Gründe für seinen Misserfolg zu suchen und zu finden. Mit so etwas habe ich mich nie beschäftigt, denn bei mir war die Ursache stets klar.
Schon als Kind hatte ich Probleme, nachts durchzuschlafen. Morgens hingegen schlief ich angenehm tief, besonders in den Stunden, da man das Glück verteilt. Am Osthimmel der ungerechtesten aller Welten stand in Flammenschrift der Spruch Morgenstund hat Gold im Mund. Ist es tatsächlich so?
Der wahre Alptraum meiner Kindheit war das tägliche Warten auf den schrecklichen Moment, da es hieß: »Gute Nacht, mein Schatz, gib Mami ein Küsschen und ab ins Bett.« Die Zeit unter der Bettdecke war vergeudet, denn sie bestand allein aus hoffnungslosen Einschlafversuchen. Natürlich habe ich auch angenehme Erinnerungen an die unvergleichliche Freiheit, die man - wie ich schnell begriff - hat, wenn alle anderen schlafen. Man muss allerdings lernen, keine Geräusche zu machen und die Spuren seines geheimen Tuns zu verbergen.
Doch das Schlimmste war das mühsame Aufstehen morgens, nachdem es mit dem Einschlafen endlich geklappt hatte. Natürlich hasste ich meine Schule, verspottete mich darüber aber selbst. Die ersten zwei Jahre fand der Unterricht nur nachmittags statt, und ich gehörte prompt zu den besten Schülern. Das war ich danach nicht mehr - bis zum Treffen mit Sir Juffin Halli.
Wie zu erwarten, vergrößerten sich meine Schlafprobleme im Laufe der Zeit ständig, was mein gedeihliches Hineinwachsen in die Gesellschaft verhinderte. Als ich mich gerade endgültig davon überzeugt hatte, dass eine Nachteule wie ich in einer Welt, in der die Frühaufsteher regieren, nichts zu suchen hat, traf ich Sir Juffin Halli.
Seiner Initiative verdankte ich die Bereitschaft, mich von meinem Elternhaus zu entfernen, und einen Job, der meinen Neigungen und meinem Ehrgeiz voll entspricht: Ich bin das Nachtantlitz des Ehrwürdigen Leiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps der Stadt Echo.
Die Geschichte meines Eintritts in diesen Dienst ist so ungewöhnlich, dass ich sie später gesondert erzählen werde. Vorerst beschränke ich mich darauf, die weiter zurückliegenden Ereignisse zu skizzieren.
Ich sollte wohl damit anfangen, dass Träume für mich seit eh und je ein wesentlicher Teil des Lebens sind. Wenn ich aus einem Alptraum erwachte, war ich zutiefst überzeugt, mir drohe tatsächlich Gefahr. Nachdem ich mich in eine Schönheit aus einem Traum verliebt hatte, konnte ich mich gleich von meiner Freundin trennen. In meiner Jugend hatte ohnehin jeweils nur eine Leidenschaft in meinem Herzen Platz. Wenn ich im Schlaf ein Buch gelesen hatte, zitierte ich meinen Freunden am nächsten Tag munter daraus. Als ich im Traum eine Reise nach Paris machte, behauptete ich danach dreist, die Stadt schon besucht zu haben. Dabei war ich kein Angeber, oh nein, doch ich spürte, sah und begriff tatsächlich keinen Unterschied zwischen Traum und Realität.
Ab und an träumte ich auch von Sir Juffin Halli. Langsam freundeten wir uns an, wenn man das so sagen kann.
Sir Juffin ist ein extravaganter Typ, den man leicht für den älteren Bruder des Schauspielers Rutger Hauer halten könnte. Sollten Sie genug Fantasie haben, so ergänzen Sie seine imposante Gestalt um sehr helle, schmale und starr blickende Augen. Dieser lebensfrohe Mann, dessen Allüren so ganz anders waren als die eines östlichen Kaisers oder eines Zirkusdirektors, eroberte das Herz des früheren Max, an den ich mich noch recht gut erinnere, wie im Flug.
In einem meiner Träume grüßten wir uns plötzlich und redeten bald darauf über Kleinigkeiten, wie Stammgäste eines Cafes es so tun. Diese Art der Traumbegegnungen dauerte ein paar Jahre, und dann bot Juffin mir seine Hilfe an. Er sagte mir mit ganz normaler Stimme, ich würde über außergewöhnliche magische Kräfte verfügen, die es zu entwickeln gelte, wenn ich nicht den Herbst meines Lebens in einer psychiatrischen Klinik begrüßen wolle. Und er schlug vor, mein Trainer, Arbeitgeber und guter Onkel zugleich zu werden. Dieser absurde Antrag erschien mir damals gefährlich verführerisch. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich bei mir keine besondere Begabung bemerkt, und mir wurde langsam klar, dass es mit meiner Karriere - gelinde gesagt - nicht recht bergauf ging. Sir Juffin, der sich so sehr für meine hypothetischen Fähigkeiten begeisterte, schöpfte mich aus der Realität wie ein Klößchen aus der Suppe. Bis zum letzten Moment glaubte ich fest daran, Opfer meiner Einbildungskraft zu sein. Fürwahr - der Mensch ist ein seltsames Wesen!
Den Bericht über meine erste Reise zwischen den Welten verschiebe ich auf später. An die ersten Tage meines Lebens in Echo erinnere ich mich fast gar nicht, begriff davon noch weniger und betrachtete - ehrlich gesagt - alles, was ringsum geschah, teils als langen Traum, teils als Kette komplizierter Halluzinationen. Ich versuchte nicht, die Situation zu durchschauen, sondern war ganz darauf konzentriert, die auftauchenden Probleme zu lösen. Damit hatte ich genug zu tun. Zuerst nahm ich an einem Intensivkurs zur Integration in mein neues Leben teil. Es erwies sich, dass ich unbedarfter als ein Neugeborenes war. Das brüllt vor sich hin und macht in die Windeln, verletzt dabei aber keine lokalen Sitten und Gebräuche. Ich hingegen machte am Anfang alles falsch und musste ordentlich schwitzen, damit man mich nicht weiter für einen Dorftrottel hielt.