Sir Juffin brach in Gelächter aus.
»Richtig, Max. Bist du Hellseher?«
»Unsinn! Mir sind nur ein paar Sachen aufgefallen ...«
»Wie dem auch sei - Melifaro ist der Liebling der Mädchen. Und das, obwohl er nicht rothaarig ist. Gib dir ruhig Mühe, Max, doch ich fürchte, auch du wirst Lady Melamori nicht erobern.«
Ich zuckte die Achseln.
»Bei Mädchen hab ich noch nie Glück gehabt. Anfangs geht es immer gut, doch dann beschließen sie zu heiraten - aber einen anderen. Das ist seltsam, weil ich mich immer in kluge Mädchen verliebt habe. Das hat aber nicht geholfen. Warum vernünftige Leute immer heiraten wollen, ist mir unbegreiflich! Ich habe mich aber daran gewöhnt.«
»Das hört sich an, als hättest du entweder das dickste Fell oder die dünnste Haut im ganzen Königreich.«
»Weder das eine noch das andere. Das ist vermutlich ein kultureller Unterschied. Bei uns soll man Schmerzen möglichst rasch vergessen. Wer dazu nicht imstande ist, erregt Mitleid, in das sich Erstaunen mischt. Verwandte empfehlen solchen Leuten, einen Psychoanalytiker zu besuchen. Das liegt auch daran, dass wir viel kürzer leben - für eine Sache viel Zeit aufzuwenden, ist für uns unverständliche Verschwendung.«
»Wie lange lebt ihr denn?«, wunderte sich Sir Juffin.
»Siebzig, vielleicht achtzig Jahre. Wieso?«
»Ihr sterbt so jung? Ausnahmslos?«
»Ja. Aber es ist nicht so wie bei euch. Mit achtzig sind wir wirklich alt.«
»Und wie alt bist du, Max?«
»Ziemlich genau dreißig. Wann hab ich eigentlich Geburtstag? Ich bin es leid, daran zu denken.«
Sir Juffin war ernstlich beunruhigt. »Dann bist du ja noch ein Kind! Na, ich hoffe, du hast nicht vor, alles nach vierzig, fünfzig Jahren aus Altersgründen hinzuwerfen! Wenn ich mir dich so anschaue ...«
Er sprang aus dem Sessel und betastete schon in der nächsten Sekunde mit eiskalten, schwerfälligen Händen meinen Rücken. Dann wurden sie heiß, und ich hatte das Gefühl, meine Persönlichkeit, die normalerweise hinter den Augen haust, verlagere sich in die Wirbelsäule. Mit meinem Rücken »sah« ich den warmen Glanz, der aus seinen starren Fingern kam. Dann hörte er so unerwartet auf, wie er angefangen hatte. Zufrieden mit dem Ergebnis, kehrte Juffin auf seinen Platz zurück.
»Alles in Ordnung, Junge. Es gibt keinen Unterschied zwischen uns beiden - auch wenn es dir schwerfällt, das zu glauben. Wie alt man wird, hängt von der Lebensführung ab. In dieser Welt kannst du über dreihundert Jahre leben. Gerade hast du mich aber erschreckt, Max! Was ist dein Vaterland nur für eine Gegend? Aus welcher Hölle hab ich dich geholt?«
»Aus der Welt der Toten«, lächelte ich betrübt. »Die hauptstädtischen Klatschmäuler haben richtig geraten, auch wenn alles halb so schlimm ist. Wenn man von Kindesbeinen an nur eine Welt kennt, hält man notgedrungen alles, was passiert, für selbstverständlich. Ich hab mein Haus verlassen und bereue es nicht. Viele würden das auch gern tun, aber ich würde es nicht unbedingt sofort wiederholen, obwohl ich immer ein Tagträumer war, der sich in einen Pechvogel verwandelte. Die Mehrheit allerdings würde Ihnen sagen, man solle sich mit dem begnügen, was man hat, statt nach etwas Besserem zu suchen. Außerdem klingt die Idee der Lebensverlängerung für viele verlockend. Wenn Sie noch einen meiner Landsleute brauchen, sagen Sie mir Bescheid!«
»Ich brauche aber keinen mehr!«
»Wer weiß, vielleicht ist es demnächst Mode, Sie im Traum zu besuchen.«
»Ich könnte all diesen Leuten doch nie und nimmer eine Stelle besorgen! Aber wer weiß? Ich sollte mich besser nicht festlegen!«
Vieles nimmt ein seltsames Ende. So war es auch mit unserem Zusammenleben: Sir Juffin ging einfach kommentarlos in sein Schlafzimmer, und ich bereitete meinen Umzug vor.
Ich war überzeugt, eigentlich gar nichts packen zu müssen, doch das erwies sich als Irrtum, denn ich besaß inzwischen eine ganze Menge Habseligkeiten: eine rasch wachsende Bibliothek, meine Kleidung, Juffins Geschenke und die hübschen Fundstücke meiner Stadtspaziergänge, bei denen ich diverse Tante-Emma-Läden besucht und dort meinen Vorschuss verpulvert hatte. Meine Bibliothek enthielt die achtbändige Enzyklopädie von Manga Melifaro, die mir sein jüngster Sohn geschenkt hatte, und diese schweren Bände waren nur ein kleiner Teil der Sammlung.
Überdies nahm ich mit, was ich bei meiner Ankunft in Echo angehabt hatte. Es war zwar unwahrscheinlich, dass ich Jeans und Pulli noch mal brauchen würde, aber ich konnte mich nicht von ihnen trennen. Vielleicht würde ich ja doch noch mal nach Hause abhauen müssen, zum Beispiel für Zigaretten.
Gut eine Stunde brauchte ich, um meine Sachen vom Schlafzimmer zum A-Mobil zu schleppen, das am Tor stand. Dann fuhr ich mit fröhlich klopfendem Herzen und leerem Kopf in mein neues Heim. Zu Hause - wie seltsam diese Worte inzwischen klangen!
Ich überquerte die Brücke namens Kamm von Echo, deren Läden und Wirtshäuser anziehend leuchteten. Trotz der späten Stunde war noch überall Betrieb. In Echo können die Leute das Nachtleben auskosten, denn die erlaubte Magie reicht völlig, um ein, zwei Nächte durchzumachen, ohne Gesundheit oder Beruf zu schaden.
Danach landete ich auf dem Rechten Flussufer und gelangte ins Herz der Altstadt. Auf Wohnungssuche hatten mir die engen Gassen hier besser gefallen als die breiten Alleen der Neustadt, des pulsierenden Zentrums von Echo.
Die Mosaikgehsteige in der Straße der alten Münzen hatten ihre Farbe fast verloren, doch ihre Steinchen gefielen mir besser als die leuchtenden Platten, die auf den neuen Straßen verlegt waren. Seit jüngstem wusste ich, dass Dinge Erinnerungen haben und davon erzählen können. Juffin hatte mir beigebracht, ihr Murmeln zu hören und - wichtiger noch - in Bilder zu übersetzen. Und Geschichten hatte ich immer gemocht. In meiner Freizeit würde ich genug damit zu tun haben zu ermitteln, wovon all die Gegenstände in der Altstadt redeten.
Mein neues Haus freute sich, mich zu sehen. Noch vor kurzem hätte ich gedacht, ich fantasiere. Aber inzwischen wusste ich, dass obskure Vorahnungen genauso glaubhaft waren wie klare Tatsachen. Jedenfalls mochten wir uns - ich und mein neues Haus. Das Gebäude war also wieder bewohnt. Sein Besitzer hatte mir erzählt, der Vormieter sei vor etwa vierzig Jahren ausgezogen, und seither seien nur ab und an die Putzfrauen gekommen.
Ich stieg aus dem A-Mobil und trug mein Zeug ins Wohnzimmer. Wie in Echo üblich, war es fast leer. Minimalistische Inneneinrichtungen haben mir immer gefallen, doch ich hatte meinen Geschmack bisher nirgendwo entfalten können. Das Zimmer enthielt nur einen kleinen Tisch, auf dem ich meinen im Fressfass bestellten Vorratskorb absetzte, ein paar bequeme Sessel, die denen im Wohnzimmer von Sir Juffin ähnelten, und ein paar Regale. Was brauchte man auch sonst?
Zwei Stunden ordnete ich genüsslich Bücher und Nippes und ging dann ins Schlafzimmer. Die Hälfte des riesigen Raums bedeckte ein so flaumweicher Boden, dass es kein Risiko, sondern ein Vergnügen sein dürfte, hier aus dem Bett zu fallen. Ein paar Kissen und Felle lagen als verwaistes Häuflein in der Ecke. Weiter weg befand sich eine Garderobe, in die ich einen Haufen bunter Stoffe geworfen hatte: meine hiesige Kleidung. Jeans, Pulli und Weste - meine Erinnerungsstücke also - hatte ich nach ganz unten gepackt. Neben dem Schlafzimmer lag ein kleines Bad, das für die Morgentoilette ideal war. Die übrigen Sanitäranlagen befanden sich im Keller.
Schon war ich umgezogen und wollte weder essen noch schlafen und hatte auch keine Lust, das Haus zu verlassen und spazieren zu gehen. Stattdessen hätte ich jedem Teufel für eine Schachtel Zigaretten sofort meine Seele verkauft.
Ich saß im Wohnzimmer, stopfte ungeschickt meine Pfeife und machte mir trübe Gedanken über mein bitteres Schicksal. In meiner Trauer tröstete mich nur der Blick nach draußen, wo eine dreistöckige Villa mit kleinen dreieckigen Fenstern und spitzem Ziegeldach stand. Wie jeder, der immer in Neubauten gelebt hat, hatte ich großen Respekt vor Altbauten. Und in Echo konnte jeder Stein Geschichten über sein Haus erzählen.