Hausnummer 3. Eigentümer: Rogro Zill, Chefredakteur von Königliche Stimme und Mitinhaber des Trubel von Echo. Seine Akten sind an entsprechender Stelle aufbewahrt. Er wohnt in der Neustadt, in der Straße der Ingwerträume. Das Haus in der Straße der alten Münzen wurde weder verkauft noch vermietet, weil der Besitzer keine weiteren Einnahmen benötigt.«
»Seine Akten sind ein Gedicht«, flüsterte Juffin mir zu. »Aber im Moment interessieren sie uns nicht. Du solltest sie dir aber bei Gelegenheit mal anschauen - sehr empfehlenswert!«
Auch Tatuns Ausführungen zum vierten, fünften und sechsten Haus waren sehr ähnlich. Die Bewohner der Straße der alten Münzen schienen die unglücklichsten Menschen von Echo zu sein, denn sie waren krank, hatten oft all ihre Verwandten verloren und würden ganz allein sterben müssen. Verbrechen, Selbstmorde oder mysteriöse Vorfälle gab es hingegen keine. Wie konnte es aber sein, dass in dieser Straße so viele kranke und einsame Menschen wohnten? Zumal in Echo, wo die Heiler selbst Tote auf erstehen lassen können?
»Hausnummer 7«, fuhr der Buriwuch fort.
»Pass auf, Max, das ist das Haus deines Nachbarn!«, rief Juffin und stieß mich in die Seite.
»Hausnummer 7«, wiederholte der Vogel geduldig. »Eigentümer: Tolakan En, verheiratet mit Feni En, keine Kinder. Tolakan En hat das Haus im Jahre 54 von seinem Vater geerbt, dem General En, der zugleich Hoflieferant war. Das Gesamterbe ist viele Millionen Kronen wert.«
Ich pfiff leise, denn Sir Tolakan war fantastisch reich. Von einer Krone ließ sich eine Woche lang leben, wenn man keinen teuren Nippes kaufte.
»Tolakan En ist durch nichts verdächtig und wird von niemandem verdächtigt«, fuhr der Vogel fort. »Er lebt sehr zurückgezogen. Wie zu dem Journalisten in Hausnummer 3 findet sich auch zu ihm ein Dossier an entsprechender Stelle.«
»Interessant, oder? Der reiche Tolakan wohnt seit sechzig Jahren in dieser bescheidenen Gegend. Und noch wichtiger: Er und seine Gattin sind das einzige gesunde Paar in der ganzen Straße. In ihrem Haus gibt es weder Behinderte noch Tote zu beklagen.«
»Hausnummer 8«, fuhr der Buriwuch monoton fort. »Eigentümerin: Gina Ursil. Keiner Untat verdächtigt. Die Voreigentümerin, ihre Mutter Lea Ursil, verlor ihren Funken und starb im Jahre 87. Seither steht das Haus leer. Die Eigentümerin lebt auf ihrem Gut in Uriuland.«
»Ich vermute, jetzt hast du das Wesentliche mitbekommen«, seufzte Juffin. »So geht das immer weiter. Leere Häuser, kranke Witwen, sieche Witwer, schwächliche Kinder. Und dazu dein Haus, in dem - wie wir wissen - nicht alles so läuft, wie es wünschenswert wäre. Danke, Tatun. Ich glaube, das reicht für heute. Wenn wir noch etwas wissen wollen, wenden wir uns an Kurusch.«
»Und das Wirtshaus?«, fragte ich. »Das Gesättigte Skelett? Dort hab ich gestern gefrühstückt. Da ist doch hoffentlich alles in Ordnung?«
»Das ist der Lichtblick in dieser merkwürdigen Straße. Aber bedenke, Max: Dort arbeiten und essen zwar Leute, aber schlafen tun sie dort nicht! Auch der Wirt Goppa Talabun wohnt in einem anderen Wirtshaus, über seinem Betrunkenen Skelett nämlich. Er besitzt ja mindestens zwölf Spelunken. Und jede trägt ein Skelett im Namen. Goppa findet das lustig. Seine Kundschaft wahrscheinlich auch.«
Juffin bedankte sich bei Lukfi und Buriwuch, und wir gingen in sein Büro. Kurusch schlief wie immer auf der Lehne seines Stuhls.
»Aufwachen«, murmelte Juffin und strich ihm gönnerhaft über die Federn. »Wir müssen noch ein bisschen arbeiten.«
Kurusch öffnete seine runden Augen und versetzte gelassen: »Aber erst die Nüsse.«
Während unser kluger Vogel mit Nussknacken beschäftigt war, tranken wir eine Tasse Kamra und aßen einen Happen.
»Jetzt bin ich so weit«, erklärte Kurusch schließlich.
»Fein - dann bist du also bereit, in deinem Gedächtnis zu graben, mein Guter. Uns interessiert alles, was mit dem siebten Haus in der Straße der alten Münzen zusammenhängt. Konzentrier dich und leg los! Sir Max sammelt alle Gerüchte über seine Nachbarn - gib dir also richtig Mühe!«
Kurusch schmollte ein wenig und schwieg. Ich hatte den Eindruck, er summte wie ein Computer leise vor sich hin. Nach ein paar Minuten gab er sich einen Ruck und begann:
»Das siebte Haus in der Straße der alten Münzen ist eins der ältesten von Echo. Es wurde 1140 von einem Schmiedemeister namens Stremmi Bro erbaut, von seinem Sohn Kardu Bro übernommen und schließlich von dessen Sohn Vamire Bro bewohnt. Im Jahre 2154 der Epoche der Orden verkaufte Vamire Bro sein Haus an die Familie Gjusot. Mener Gjusot, bekannt als Großer Magister des Ordens der Grünen Monde, wurde im Jahre 2346 in diesem Haus geboren, bekam es zu seinem hundertsten Geburtstag geschenkt und lebte dort von aller Welt zurückgezogen. Bekanntlich gründete Mener Gjusot im Jahre 2504 den Orden der Grünen Monde offiziell. Bis dahin war die Macht des Ordens nicht bewiesen, und die Treffen der Mitglieder fanden in der Wohnung des Großen Magisters statt. Als man im Jahre 2675 die große Residenz des Ordens erbaute, war das siebte Haus in der Straße der alten Münzen dennoch nicht leer: Der Große Magister beschäftigte sich dort mit -besonders wichtigen Dingen«, wie er zu sagen pflegte.
In der Traurigen Zeit gehörten die Mitglieder des Ordens der Grünen Monde zu den Ersten, die mit Feuer und Schwert verfolgt wurden, weil ihr Orden zu den wichtigsten Konkurrenten des Siebenzackigen Blattes gehörte. Die Mehrzahl der Novizen, Agenten und Magister des Ordens wurde getötet. Der Große Magister Mener Gjusot nahm sich am 333. Tag des Jahres 3183 in der Residenz seines Ordens das Leben - fünf Jahre, bevor die Epoche des Gesetzbuchs begann. Bekanntlich haben nur zwölf in die Geheimnisse des Ordens eingeweihte Magister überlebt. Sie alle haben - nach Informationen des Ordens des Siebenzackigen Blattes - das Vereinigte Königreich verlassen. Berichte über die Tätigkeiten eines jeden dieser zwölf Magister befinden sich im Archiv und werden im Laufe der Ermittlungen bearbeitet. Das Eigentum des friedlichen Mener Gjusot - also auch sein Haus in der Straße der alten Münzen - wurde vom König beschlagnahmt. Auf seinen Befehl hin wurde das Haus im achten Jahr der Epoche des Gesetzbuchs an General En verkauft, den Hoflieferanten des Königs. Zwei Jahre später starb General En, und das Haus ging in den Besitz von Sir Tolakan En über, dem Hauptberater der Verpflegungskanzlei und einzigen Sohn des Verstorbenen. Die Immobilie stand leer, bis Familie En im Jahre 54 der Epoche des Gesetzbuchs vom Land in die Stadt zog. Ein Jahr darauf beendete Sir Tolakan En seinen Dienst in der Kanzlei, lebt seither ganz zurückgezogen und lässt nicht einmal seine Diener bei sich wohnen. Sein Verhalten wird allgemein mit extremem Geiz erklärt, der bei reichen Leuten ja häufig ist ... Gib mir noch Nüsse!«
Kaum hatte Kurusch diese Forderung ausgesprochen, verfiel er in Schweigen.
»Eine gute Geschichte, Max«, lächelte Juffin zufrieden und fischte aus den zahlreichen Schubladen seines Schreibtischs ein paar Nüsse hervor. »Der Vater kauft ein Haus und stirbt bald darauf. Alles läuft gut, solange das Haus leersteht. Im Jahre 54 wird es von seinem Nachfolger bezogen. Nicht einmal ein Jahr später hat sich der neue Hausherr schon in einen anderen Mensehen verwandelt. Ohne äußeren Anlass verzichtet er auf Hausangestellte und wird zu einem der unauffälligsten Bewohner von Echo. Lady Fern - seine Frau und die wichtigste Salonlöwin der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts - hat keine Erklärung für Tolakans merkwürdiges Verhalten - genauso wenig wie seine engsten Freunde. Da kann man nichts machen: Das Leben eines jeden - und sei er auch der reichste Mensch der Hauptstadt - ist seine Privatsache. Die Leute staunen erst über Tolakans Lebenswandel und vergessen ihn dann. Das Leben geht weiter.«