»Hat er sich wirklich niemandem gezeigt?«
»Jein. Ab und an hat man schon irgendwo eine Nasenspitze zu sehen bekommen. Aber nur die Nasenspitze von Lady Feni. Sie verlässt das Haus nur alle zwölf Tage und ist noch immer so distanziert wie damals, als ihre Schönheit eine der Hauptsensationen am Königshof war. Aber die beiden bekommen keinen Besuch. Lady Feni geht einkaufen und packt ihre Taschen jedes Mal so voll mit Nahrungsmitteln, dass die beiden sie niemals aufbrauchen können. Es scheint, als hätte sie eine neue Aufgabe gefunden - die nämlich, in kürzester Zeit die größte Sammlung diversester Nahrungsmittel zusammenzutragen. Im Übrigen ist so etwas für eine derart reiche Frau in ihrer Position völlig normal.«
»Da haben Sie ja viel erfahren, Juffin!«
»Ach, Max - ich fürchte, das ist viel zu wenig. Aber mehr konnte ich in der kurzen Zeit nicht ausfindig machen. Na schön - sei froh, dass du dich damit nicht hast quälen müssen. Sammle deine Kräfte und genieße das Leben. Ich gehe derweil nach Hause und versuche, in meinem Mauseloch ein wenig Schlaf zu finden. Ich dachte schon, die Zeit meiner asketischen Heldentaten sei für immer vorbei.«
Sir Juffin verschwand, und ich blieb allein im Haus an der Brücke zurück. Die ganze Nacht versuchte ich, seinem Befehl zu entsprechen, mich zu erholen und das Leben zu genießen. Das fiel mir nicht leicht, doch ich tat, was ich konnte.
Wie üblich begann der nächste Tag mit einem Treffen mit Sir Kofa. Er wirkte ein wenig zerstreut. Übrigens stand ihm dieser Gesichtsausdruck besser als seine übliche Grimasse stockfinsterer Langeweile.
»Die Diebstähle greifen immer mehr um sich«, teilte er mir mit. »Weißt du, allmählich gefällt mir das nicht mehr. Darum spitze ich die Ohren. Alles deutet darauf hin, dass es immer die gleichen Leute sind, die sie begehen. Aber wie schafft es diese flinke Truppe, zugleich in weit voneinander entfernten Häusern in Echo zuzuschlagen? Und wenn es verschiedene Leute sind - welches Genie schafft es dann, sie so perfekt zu koordinieren? Und vor allem: wofür? Damit General Bubuta endlich erfährt, dass in dieser Stadt nur eine Mannschaft wirklich regiert? Na schön, mein Junge, sag Juffin, er soll sich mit mir treffen, wenn ihm langweilig wird. Die ganze Sache ist natürlich ziemlich dumm und für unsere Behörde alles andere als geeignet, doch in der Nacht erscheint sogar eine dünne Frau als Bettdecke!«
»In der Not frisst der Teufel Fliegen«, antwortete ich automatisch. »Ich werde das weiterleiten, Sir Kofa, aber ich fürchte, heute langweilt sich Sir Juffin sicher nicht. Ich hab ihm eine nette kleine Arbeit zugeschustert ...«
»Na, sollen sich doch die Vampire um diese Diebstähle kümmern! Ich warte lieber auf bessere Zeiten. Bleib gesund, Max. Ich will auf dem Heimweg noch ein paar Besuche machen und verabschiede mich deshalb jetzt.«
Ich langweilte mich noch eine halbe Stunde und bekam dann per Stummer Rede eine Nachricht von Sir Juffin: »Bei mir ist alles in Ordnung. Allerdings denke ich lieber nicht daran, dass ich mich demnächst in deinem Bad waschen muss. Wenn ich komme, gehen wir ins Fressfass frühstücken.«
Genüsslich träumte ich von einem herrlichen Menü, und mein Arbeitszimmer schien bis zur Ankunft von Sir Juffin alle Attribute eines guten Restaurants zu besitzen: ein prachtvolles Büfett, verlockende Düfte und einen einsamen Feinschmecker, dem der Hunger ins Gesicht geschrieben stand.
Schließlich kam der Ehrwürdige Leiter, und wir gingen ins Fressfass.
»Ich habe die Ehre zu berichten«, begann Juffin dort und verzog dabei den Mund, als wäre er ein Rekrut, der zum ersten Mal selbständig eine Aufgabe bewältigen sollte, »dass die Ergebnisse meiner Ermittlungen Folgendes zeigen: Erstens wohnt im Nachbarhaus tatsächlich etwas, und zweitens hat es Angst vor mir. Vielleicht findet es mich aber auch nur eklig oder unappetitlich. Oder es handelt sich um einen Abonnenten des Trubel von Echo, der mich respektiert und deshalb Distanz hält. Wie auch immer - ich bin unangetastet geblieben. Vielleicht ist aber alles noch komischer gelaufen. Zuerst habe ich geträumt, auf deinem schrecklichen Esstisch zu liegen, doch nach kaum einer Sekunde war alles verschwunden. Ich war frei wie ein Vogel und konnte schlafen, wo ich wollte. Daraufhin bin ich zudringlich geworden und habe versucht, mich unserem geheimnisvollen Freund zu nähern. Sein Haus war aber so gut geschützt, dass ich dort nur das tief schlafende Ehepaar entdecken konnte. Ich habe aber dennoch etwas Neues erfahren!«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, dass die magischen Phänomene im Nachbarhaus kein Menschenwerk sind. Es kann allerdings sein, dass jemand die Kräfte, die nun im Haus spuken, zum Leben erweckt hat. Ich habe übrigens den Verdacht, dass die Vergangenheit den Namen dieses Jemands schützt. Wer von den ehemaligen Bewohnern - vom Großen Magister des Ordens der Grünen Monde abgesehen - hätte Gefallen an solchen Spielchen finden können? Eins jedenfalls bleibt Tatsache: Eine fremde Kraft versucht, sich bei dir einzunisten. Ich habe den Eindruck, sie will dich ins Exotische ziehen.«
»Ins Exotische? Ich bin doch schon exotisch genug. Was will diese Kraft bloß von mir?«, murmelte ich.
»Na was wohl? Happi, happi!«, lächelte Juffin und fuhr sich gierig grinsend mit der Zunge über die Lippen. »Jedenfalls führt sie nichts Gutes im Schilde. Warum sollten die Leute in der Nachbarschaft sonst sterben wie die Fliegen? Na schön - was wissen wir noch über unseren Gegner? Nach der Analyse der heutigen Nacht kann man sagen, dass er vorsichtig und selektiv arbeitet. Diese Kraft will sich also nicht mit einem ebenbürtigen Gegner wie mir einlassen. Außerdem hat sich gezeigt, dass sich unser kleiner Freund auch irren kann, denn heute ist er zunächst in meinen Traum eingedrungen, dann aber schnell geflohen. Das freut mich, denn ich habe nur ungern mit einem perfekt funktionierenden Gegner zu tun! Schwierig. Na gut, Max, unsere Informationen sind eindeutig unzureichend. Also wirst du dich demnächst noch ein, zwei Nächte mit Alpträumen quälen müssen. Ich werde mich in mein Arbeitszimmer zurückziehen und deine nächtlichen Abenteuer genau beobachten. Komm nur nicht auf den Gedanken, heute ohne dein Amulett, das ich dir so mühsam besorgt habe, aus dem Haus zu gehen!«
»Meinen Sie diese Blechkette?«
»Ich meine das Armband des Großen Magisters vom Orden des Geheimen Krauts. Dein Leichtsinn wird mich noch ins Grab bringen! Ohne diese >Blechkette< kann dir keiner garantieren, dass du aus deinen Alpträumen je wieder erwachst. Würde dir das gefallen?«
»Nicht besonders. Ich werde das Armband schon nicht vergessen, Juffin. Seltsam, dass ich es gestern habe vergessen können. Vielleicht ist das unbekannte Ungeheuer, das irgendwo im Hinterhalt liegt, ja der Grund meiner Zerstreutheit.«
»Möglich. Umso schlimmer, Max, umso schlimmer.«
»Denken Sie bitte, wenn Sie über meine nächtlichen Träume wachen, an alle vorbeugenden Sicherheitsmaßnahmen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder werde ich immer zerstreuter, oder dieses Geschöpf verwandelt mich in einen Idioten.«
»Du hast recht. Alles ist möglich. In einem solchen Fall schadet es nie, Sorgfalt anzumahnen. Du isst ja ungemein wenig, merke ich gerade. Verdirbt dir dieser Quatsch etwa den Appetit? Probleme kommen und gehen, dein Bauch aber bleibt dir erhalten. Die Bedürfnisse deines Magens sind wichtiger als alles andere.«
»Ich gelobe Besserung, Sir.«
Und tatsächlich besserte ich mich, aß den Teller leer und nahm mir Nachschlag. Sir Juffin betrachtete mich mit dem Lächeln einer liebenden Großmutter.
Alles war toll, doch irgendwann musste ich nach Hause, um die neue Folge der Horrorserie Nightmare on Elm Street zu sehen, in der der arme Max die Hauptrolle spielte. Angst verspürte ich nicht. Eigentlich erfüllte mich eher absurder Heldenmut. Also beschloss ich, nicht bei Juffin zu übernachten, um so die Klärung des Falls voranzutreiben. An sich war es nur meine Dickköpfigkeit, die mich so handeln ließ.