»Sündige Magister! Was ist denn das?«
»Eins der vielen Meisterwerke vom Anfang der Ordensepoche«, erklärte Lonely-Lokley. »Ein Amulett, das dieses Haus schützen sollte.«
»Eine herrliche Figur!«, seufzte Juffin. »Ich glaube, das Gespenst von Lady Feni hat sie irgendwo erworben, wo es nichts unter dreihundert Kronen zu kaufen gibt. Sie muss von einem begnadeten Künstler stammen, sündige Magister! Die Vampire sollen ihm die Ohren abbeißen!«
»Wirklich nicht schlecht«, stimmte ich zu. »Was für ein ausdrucksstarkes Gesicht! Ob das ein magisches Requisit war?«
»Na ja, zu ihrer Zeit hat diese Dame das Haus aufs Beste vor Dieben und unerwünschten Gästen geschützt. Und vor bewaffneten Widerlingen. Alles ist gut, sofern so ein Amulett in ein normales Haus gelangt, wo gewöhnliche Leute wohnen. In einem Haus aber, in dem ein Fetan lebt, kann mit so einem Amulett alles Mögliche passieren. Diese einfache Wahrheit haben oberschlaue Wissenschaftler ab und an bezweifelt. Doch es ist und bleibt Tatsache: Wenn ein Amulett sich gegen dich kehrt, bist du erledigt. Das nenne ich eine ausführliche Antwort auf manch theoretische Überlegung. Übrigens hätte ich nicht bloß mit ansehen dürfen, wie dich in dieser Wohnung die Kräfte verließen. Hätte ich mich mit dir unterhalten, wäre dein Nacken heil geblieben - und deine Nerven natürlich auch. Also gut, gehen wir. Im Haus an der Brücke ist es angenehmer. Vielleicht brauchst du Urlaub? Schließlich bist du verletzt, wenn auch nicht besonders schlimm.«
»Urlaub? Sie wollen ja bloß ohne mich Piroggen essen und die ganze Sache ungestört besprechen! Wenn Sie mich loswerden wollen, müssen Sie mich umbringen. Anders geht's nicht!«
»Deine Neugier und deine Verfressenheit verhindern immer wieder, dass du dich bei der Arbeit wirklich verausgabst«, lächelte Juffin. »Na schön. Gehen wir endlich.«
Lonely-Lokley half mir auf die Beine und musste dafür meinen Mantel mit den Händen berühren, da er seine ehrwürdigen Handschuhe im Fond des A-Mobils gelassen hatte. Ich begriff, dass es riskant war, sich von diesem Mann am Ellbogen führen zu lassen - genauso riskant wie der Besuch der Abendschule in einem Atomkraftwerk. Darum versuchte ich, allein die Treppe herunterzugehen. Das klappte ziemlich gut. Ich war zwar alles andere als leichtfüßig, kam aber wohlbehalten unten an.
Kaum saßen wir im A-Mobil, verzerrte Juffin sein Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen.
»Das Abendessen wird auf später verschoben, Leute. Melifaro bittet dringend um Hilfe. Die drei sind offenbar in die Klemme geraten. Wenn selbst Melifaro jammert, was mag dann passiert sein? Der Arme hatte keine Zeit für Erklärungen, sondern hat nur gebrüllt, das Unheil habe alle Kraft zusammengenommen und tobe jetzt erst richtig. Mit einem Wort: Das kann heiter werden! Wir fahren jetzt in die Straße der kleinen Generäle. Max, setz du dich ans Steuer. Im Moment kann dein Leichtsinn uns nur nützen. Und du, Junge, lauf zum Haus an der Brücke und lies Zeitungen. Na los!«, rief Juffin und stupste den verblüfften Chauffeur mit dem Ellbogen. Ich nahm seinen Platz ein, und wir fuhren los. Juffin hatte nur Zeit, »Links!« oder »Rechts!« zu schreien.
An diesem Abend gelang es mir, dem Motor des unglücklichen A-Mobils zweihundert Sachen aus den Rippen zu leiern.
Eile war geboten, denn die Straße der kleinen Generäle lag - wie sich erwies - am Westrand der Stadt. Dennoch schafften wir es, nach kaum einer Viertelstunde dort aufzutauchen. Juffin hätte nicht unbedingt feststellen müssen, dass wir angekommen waren, denn daran gab es - offen gesagt - keinen Zweifel.
Ich kann nicht behaupten, dass es in Echo abends besonders leise ist. Dennoch ist es eigentlich nicht üblich, in Gruppen von zwanzig, dreißig Personen in Unterwäsche durch die Straßen zu laufen, dazu noch in Gesellschaft von Kindern und leicht hysterischen Haustieren. Wehklagend auf dem eigenen Dach herumzurennen, ist - soweit ich weiß - ebenfalls unüblich. Und selbst das war hier zu sehen.
»Der schmutzig rosa Hühnerstall da vorn ist das Haus von Dschuba Tschebobargo«, sagte Juffin mit ausgestreckter Hand.
Aus dem so gnadenlos kritisierten Gebäude kam ein barfüßiger Mann gehetzt, dessen durchtrainierten Körper die Reste eines Skaba-Mantels bedeckten. Am Saum des Mantels klebte ein glitzernder Gegenstand, der früher bestimmt ein Schmuckstück war. Im nächsten Moment merkte ich, dass er lebendig war. »Ist das etwa eine Ratte?«, fragte ich mich. »Ekelhaft!«
Seit meiner Kindheit habe ich Angst vor Ratten. Diese verbreitete Phobie hat einen komplizierten Namen, an den ich mich damals allerdings nicht zu erinnern vermochte. Doch nach ein paar Sekunden hatte ich mich wieder unter Kontrolle und sagte mir, mehrfarbige Ratten kämen in der Natur doch gar nicht vor. Im Normalfall ist so ein Geschöpf schwarz oder grau und hat allenfalls einen Rotstich. Das geheimnisvolle Wesen am Mantelsaum dagegen besaß obendrein eine erstaunlich menschenähnliche Gestalt.
»Das ist ja ein kleines Männchen!«, rief ich fröhlich. »Bloß ein klitzekleines Männchen! Von dem hat doch das Mädchen erzählt!«
Aus Lonely-Lokleys linker Hand schoss eine weiße Flamme und ließ von dem Männchen nicht mal ein Häufchen Asche übrig. Der erschrockene Mantelträger lief wohlbehalten weiter und ließ die unbeschäftigten Liebhaber des männlichen Striptease seinen mattweißen Hintern sehen, der in der Dämmerung seltsam schimmerte.
»Soll ich ihn anhalten, Sir?«, fragte Schürf.
Juffin schüttelte den Kopf. »Das ist nicht Dschuba. Soll er ruhig noch laufen. Immerhin ist das eine gute Unterhaltung! Warum warst du eigentlich so vergnügt, Max? Hast du eine Idee, wer das Männlein gewesen sein könnte?«
»Was für eine Idee denn?«, fragte ich und errötete sichtlich. »Ich war nur froh, dass es keine Ratte ist.«
»Eine Ratte? Was soll das denn sein?«
»Gibt es in Echo etwa keine Ratten?!«
»Soweit ich weiß, nicht. Aber vielleicht haben sie hier nur einen anderen Namen. Doch jetzt lass uns nachschauen, was im Haus los ist. Sir Schürf, Sie gehen als Erster rein. Und du, Max, passt auf deinen armen Kopf auf. Heute ist kein guter Tag für dich.«
An diesem Tag merkte ich, dass ich sehr gern in Gesellschaft von Sir Schürf Lonely-Lokley war. Er ist ein ausgezeichneter Killer. Wer dem Tod so nahe steht wie er und doch spürt, dass er keine Gefahr darstellt, ist etwas Besonderes und erlebt ein unbestreitbares Gefühl von Machtvollkommenheit. Schwindel erregend!
Auf der Schwelle zum rosa Hühnerstall verlor sich meine unangebrachte Hochstimmung. Ein weiteres kleines Männchen klebte am Bauch eines dicken alten Mannes und schmatzte seltsam sinnlich. Anscheinend schmeckten ihm die Innereien des Alten prächtig. Zum Glück beendete Lonely-Lokley diese Idylle schnell. Hätte er auch nur ein paar Sekunden gezögert, dann hätte ich mich sicher von den Piroggen, die ich Stunden zuvor gegessen hatte, verabschieden müssen.
»Donnerwetter! Das ist doch Krello Schir!«, staunte Juffin und näherte sich dem entstellten Leichnam. »Schade um den Armen. Ich hätte nie gedacht, dass Dschuba sich einen so ausgezeichneten Koch leistet. Schließlich ist er nur ein bescheidener Künstler!«
Wir gingen ins Schlafzimmer. Der Anblick, der sich uns dort bot, wäre es wert gewesen, in Bronze verewigt zu werden. In die Reste seines Lochimantels gehüllt, versuchte der tapfere Sir Melifaro, ein kleines, sich wütend windendes Männchen zu zerbrechen. Gut ein weiteres Dutzend lebloser Körper diente seiner Heldentat als Hintergrund. Sir Lonely-Lokley sprang in den Flur zurück.
»Wo ist denn Melifaros ewiges Lächeln geblieben?«, fragte ich verblüfft.
Melifaro schüttelte feierlich den kleinen, kopflosen Körper, den er in Händen hielt, und fing dann tatsächlich an zu lächeln. Er überlegte wohl, wie das Ganze auf seine Betrachter wirken mochte.